Dem Wasserstoff-Hochlauf stehen jedoch große Unsicherheiten bezüglich des künftigen Bedarfs und der entsprechenden Infrastruktur gegenüber – ein Dilemma, welches strategische Entscheidungen und konkrete Planungen hemmt. Forschende des Fraunhofer CINES haben das gesamteuropäische Energiesystem in den Jahren 2030 und 2050 anhand von Szenarien analysiert. Sie zeigen, dass selbst bei geringer Wasserstoffnachfrage ein Ausbau der Wasserstoff-Infrastruktur notwendig ist.
Wasserstoff-Infrastruktur selbst bei minimaler Nachfrage
Das Fraunhofer CINES hat fünf Entwicklungsszenarien für die europäische Wasserstoff-Infrastruktur untersucht. Unter der Annahme, dass das jeweils kostenoptimale Energiesystem umgesetzt wird. Die Studie analysiert den Bedarf an Wasserstoff und dessen Derivaten für die Jahre 2030 und 2050. Der Minimalbedarf in Europa liegt 2050 bei 700 Terawattstunden. Dieser Bedarf ergibt sich aus der industriellen Prozesswärme, Kraftwerken, Fernwärme und dem innereuropäischen Flugverkehr. Im Maximalszenario betrage der Verbrauch rund 2.800 Terawattstunden. Wichtigster Grund für die große Spannbreite seien die großen Unsicherheiten in Bezug auf den künftigen Wasserstoffverbrauch als Grundstoff für die chemische Industrie. Die Chemie- und Stahlindustrie in Nordwesteuropa, insbesondere in Nordrhein-Westfalen, den Niederlanden und Flandern, bilde dabei einen geografischen Schwerpunkt.
Daraus errechneten die Forschenden, welcher Umfang an Wasserstoff-Infrastruktur in den Jahren 2030 sowie 2050 erforderlich sein wird, um den jeweiligen Bedarf zu decken. So zeigt sich, dass selbst bei dem geringsten zu erwartenden Wasserstoffbedarf alle wesentlichen Elemente dieser Infrastruktur, also Elektrolyseure, Transportkorridore und Speicher, in großem Maßstab benötigt werden.
„Ein Hemmnis für viele Wasserstoffstrategien und Investitionen in die entsprechenden Technologien waren bisher die großen Unsicherheiten darüber, ob und in welchem Umfang die Infrastruktur überhaupt benötigt wird”, erklärte Dr. Tobias Fleiter, Studienleiter am Fraunhofer-Exzellenzcluster, den Hintergrund der Studie.
H2-Versorgung: 90 Prozent Eigenproduktion
Laut den Untersuchungen soll die Eigenproduktion in Europa den Wasserstoffbedarf weitgehend decken können. Importe würden maximal 10 Prozent des Gesamtbedarfs ausmachen.
Die benötigte Elektrolyseleistung entwickelt sich nach Angaben des Fraunhofer CINES wie folgt: 2030 soll die Leistung zwischen 54 und 107 Gigawatt liegen. Bis 2050 werde sie auf 300 bis 1.067 Gigawatt ansteigen. Die Elektrolyseure werden zunächst wahrscheinlich an Windenergie-Standorten an den Küsten der Britischen Inseln, Norwegens, Nordwestdeutschlands und Frankreichs entstehen. Später kommen dann Standorte in Südeuropa hinzu.
Die Vor-Ort-Elektrolyse an Solar- und Windstandorten erweist sich als kosteneffizienter im Vergleich zur verbrauchsnahen Produktion. Dieses Ergebnis mache deutlich, wie effizient große Energiemengen in Form von Wasserstoff über den gesamten Kontinent hinweg transportiert werden können, auch im Vergleich mit dem Transport über das Stromnetz, so Dr. Fleiter. Gleichzeitig bleibe in Europa hergestellter, grüner Wasserstoff konkurrenzfähig gegenüber Importen, so der Studienleiter. Der Grund dafür sei, dass die Transportkosten aus Nordafrika und dem Mittleren Osten die dortigen niedrigeren Produktionskosten neutralisieren.
Transportkorridore und Speicherkapazität
Entsprechend bedeutsam ist die Infrastruktur für den innereuropäischen Wasserstofftransport. Die wichtigsten Transportkorridore führen laut Fraunhofer CINES von den Britischen Inseln sowie Norwegen in den Nordwesten Kontinentaleuropas, während Frankreich zum Umschlagplatz für Wasserstoff aus Spanien und Portugal werden wird.
Für den saisonalen Ausgleich von Wasserstofferzeugung und -verbrauch sind im Jahr 2050 Wasserstoffspeicher mit einer europaweiten Kapazität von 215 bis 300 Terawattstunden nötig. Würden alle heute bestehenden Erdgasspeicher für die Speicherung von Wasserstoff umgerüstet werden, könnten diese etwa 225 Terawattstunden Wasserstoff aufnehmen.
Die von den CINES-Forschenden angewandte Methodik modelliert das künftige Energiesystem Europas in zeitlicher und räumlicher Auflösung. Dabei berücksichtigen die Modelle zahlreiche Einflussgrößen wie etwa Technologien, Preise, regulatorische Rahmenbedingungen und Wetterdaten. Damit verfüge das Exzellenzcluster über ein Werkzeug, um weitere Unsicherheitsfaktoren für das künftige Wasserstoffsystem genauer betrachten zu können. Dazu gehören laut Fleiter zum Beispiel verschiedene Ausbaupfade erneuerbarer Energien, der sogenannte blaue Wasserstoff, Biomasse oder auch CCS (Carbon Capture and Storage).
Die Studie entstand im Rahmen des BMBF-Wasserstoff-Leitprojektes TransHyDE.