H₂News: Herr Chatzimarkakis, sind die Projekt-Stopps bei ArcelorMittal und LEAG zwei Symptome desselben Problems?
Jorgo Chatzimarkakis: Nein, die Fälle sind unterschiedlich gelagert. Beginnen wir beim Stahl: ArcelorMittal ist ein internationaler Konzern. Man denkt dort global und prüft, wo Gestehungskosten für Wasserstoff am günstigsten sind. Es ist so: Ob ein Stahlproduzent Eisenerz importiert oder reduzierten Eisenschwamm (Direct reduced iron, DRI), macht für ihn keinen großen Unterschied. Aber wenn er Eisenerz und grünen Wasserstoff importiert, um die Reduktion auf dem Werksgelände selbst durchzuführen, macht das einen sehr großen Unterschied – hier zählt jeder Cent, und grüner Wasserstoff ist momentan noch teuer. Dieses Thema hat ArcelorMittal immer im Blick gehabt und sich nun dafür entschieden, die Wasserstoff-Direktreduktion in Deutschland nicht selbst vorzunehmen.
H₂News: Wie bewerten Sie das?
Chatzimarkakis: Es spricht nichts dagegen. Europa wird nie die gesamte DRI-Nachfrage seiner Stahlindustrie decken können. Dafür müssten wir enorme Wasserstoffvolumina herstellen und importieren. Von daher ist es sinnvoll, wenn einzelne Stahlhersteller ihr DRI importieren. Die Umstellung auf wasserstoffbasierte Produktion läuft bei drei deutschen Stahlherstellern ja weiterhin unter Hochdruck.
H₂News: Sie sehen ArcelorMittals Rückzug also nicht negativ?
Chatzimarkakis: Nein, für mich ist das eher eine positive Nachricht: Die Mittel, die nicht mehr von ArcelorMittal abgerufen werden, können wir jetzt nutzen, um die Transformationsprogramme bei Salzgitter, ThyssenKrupp und Saarstahl zu unterstützen. So behalten wir unsere Souveränität in der Stahlproduktion – eine Souveränität, die wir im Digitalen bereits an die USA und bei Solar- und Batterietechnologie an China abgegeben haben. Von daher ist die Entscheidung von ArcelorMittal ein Schritt in die richtige Richtung – wenn die Politiker mutig genug sind, die inländischen Dekarbonisierungsprojekte jetzt nicht fallenzulassen.
H₂News: Als Saarländer dürfte Sie es besonders freuen, wenn die dortigen Transformationsbemühungen erfolgreich sind.
Chatzimarkakis: Ministerpräsidentin Anke Rehlinger schätze ich sehr und freue mich, dass sie die gesamte Wertschöpfungskette im Saarland erhalten möchte. Durch große Elektrolyseprojekte an der deutsch-französischen Grenze wird es viele Möglichkeiten geben, klimaneutralen Wasserstoff zu beziehen. Zusätzlich gibt es den natürlichen oder ‚weißen‘ Wasserstoff in Lothringen.
H₂News: Wann könnte der eine Rolle spielen?
Chatzimarkakis: Ich schätze, wir sind noch fünf bis zehn Jahre davon entfernt, weißen Wasserstoff in großen Mengen zu nutzen. Dann wird es extrem spannend: Die Vorkommen liegen weniger als 30 Kilometer von den Stahlwerken entfernt, und Pipelines sind zum Teil schon vorhanden. So könnten wir eine echte Autarkie in der Stahlproduktion erreichen! Diese Chance sollten wir auf keinen Fall aufgeben – auch wenn bestimmte Parteien meinen, das sei zu wenig grün, während andere sagen, eine europäische Stahlproduktion habe keine Zukunft.
H₂News: Kommen wir zu einem anderen Beispiel: dem Aus für das Wasserstoff-Projekt der Leag im sächsischen Boxberg. Wie ist dieser Fall gelagert?
Chatzimarkakis: Dieser Projektstopp ist eindeutig eine Folge der Überregulierung, die wir in Europa haben. Die vorherige Europäische Kommission hat ein sehr enges Netz an Regeln aufgestellt, die definieren, was eigentlich als grüner Wasserstoff gilt und entsprechende Fördermittel erhalten darf. Und dieses Regel-Korsett ist so eng, dass sich grüner Wasserstoff fast gar nicht mehr wirtschaftlich produzieren lässt. Wir müssen die Regeln flexibler gestalten, sonst haben wir auf dem globalen Markt keine Chance.
H₂News: Auch aus dem europäischen Parlament kam kürzlich ein Vorstoß, die Kriterien für grünen Wasserstoff nach den Delegated Acts (RED II/III) zu überarbeiten. Wie aussichtsreich ist dieser Schritt?
Chatzimarkakis: Ich begrüße diese Initiative sehr. Doch obwohl das Parlament die Kommission immer wieder zu einer Revision aufruft und auch die Mehrheit der Mitgliedstaaten die scharfen Kriterien schon kritisiert hat, verschanzt sich die Kommission und sagt „Wir machen nichts“. Das grenzt an Arbeitsverweigerung – und könnte bittere Konsequenzen haben. Ich hoffe nur, dass wir die politische Debatte zu einem positiven Ende führen, bevor die Unternehmen ins Ausland abgewandert sind.
H₂News: Halten Sie es für eine reale Gefahr, dass die europäische Wasserstoffindustrie aufgibt oder abwandert, bevor es zu einem Markthochlauf gekommen ist?
Chatzimarkakis: Absolut. Viele Fachkräfte und zunehmend auch Startups OEMs wurden schon längst von chinesischen Unternehmen abgeworben, weil sie genau sehen, was in Brüssel passiert. In China ist ihr Wissen, ihr Können, ihre Arbeitskraft gefragt, und sie werden auch angemessen besser bezahlt. Die Kommission hat das durch ihre Scheuklappenpolitik mitverschuldet. Und das Parlament hat seine Macht bei diesem Thema an die Kommission delegiert -– daher nennt man diese Rechtsinstrumente delegierte Rechtsakte – und müsste sie jetzt gemeinsam mit dem Rat zurückholen. Immerhin kann es die Delegated Acts noch stoppen, bevor sie rechtskräftig werden.
H₂News: Womit begründet die Kommission ihre Haltung?
Chatzimarkakis: Sie unterliegt meines Erachtens einem toxischen Technologie-Positivismus. Man fokussiert sich ausschließlich auf einen Lösungsansatz, nämlich die Elektrifizierung. Und das in einem Marktumfeld, das bereits vollständig von chinesischen Unternehmen dominiert wird. Es erinnert an eine Bunkermentalität, die letztendlich in den Abgrund führt.
H₂News: Immerhin scheint es, als hätten die letzten Europawahlen Bewegung gebracht: Die Kritik aus dem EU-Parlament ist heute lauter als noch 2022 oder 2023.
Chatzimarkakis: Ja, wir haben nun schon seit über einem Jahr ein neu gewähltes Parlament mit einer neuen Stimmung. Die Fraktion der Grünen, die früher sehr dominant war, ist stark geschrumpft. Das Parlament ist dadurch sehr viel pragmatischer geworden. Die Mitgliedstaaten haben sich ebenfalls umorientiert. Es wird Zeit, dass das auch bei der Kommission ankommt. Hydrogen Europe arbeitet daher seit Mitte Juni mit anderen Verbänden am Aufbau einer „Europäischen Wasserstoff-Allianz“.
H₂News: Können Sie Details dazu nennen?
Chatzimarkakis: Es ist eine breite Verbändeinitiative aus Energiewirtschaft und Industrie – von BDEW über VCI, VDA, VDMA bis hin zur Wirtschaftsvereinigung Stahl. Das Ziel ist politische Durchschlagskraft: Die Mitgliedstaaten sollen sich gemeinsam im EU-Rat für eine pragmatische, umsetzungsorientierte Wasserstoffpolitik und eine Überarbeitung der delegierten Rechtsakte einsetzen. Wir brauchen Kosteneffizienz und Pragmatismus statt ideologischer Verengung – sonst werden wir immer mehr Projektstopps sehen.
H₂News: Kommen wir zu etwas Erfreulicherem: In den letzten Jahren sind in Europa zahlreiche Wasserstoff Start-ups gegründet worden. Welche Trends finden Sie besonders spannend?
Chatzimarkakis: Start-ups, die uns helfen, unsere Resilienz zu stärken – das sind junge Unternehmen, die mich aktuell begeistern. Ein Beispiel ist Ineratec, die SAF auf Basis von CO2 und grünem Wasserstoff produzieren. Außerdem bin ich großer Anhänger der Pyrolyse bzw. des türkisen Wasserstoffs. Der wird gerne übersehen, auch regulatorisch. Aber selbst wenn sich Pyrolyse erstmal nicht rechnet – wobei sie sich ziemlich schnell tragen würde – muss sie einfach gemacht werden. Bei der Abfallpyrolyse können wir Rohstoffe, die wir haben, nutzen, um andere, kostbarere Rohstoffe herzustellen. Damit meine ich nicht nur Wasserstoff, sondern auch das Carbon Solid, mit dem sich ganz neue Märkte lassen. Dieses Denken ist wichtig für die Politik und wird von manchen Start-ups schon gelebt. Und die müssen wir unterstützen.
H₂News: Sie scheinen besonderen Wert auf den Aspekt der Energieresilienz zu legen, die durch Wasserstoff erreicht werden kann.
Chatzimarkakis: Weil es ein entscheidender Punkt ist. Wir leben heute in einem komplett neuen Zeitalter: Souveränität oder Resilienz spielt jetzt die entscheidende Rolle. Die soziale Marktwirtschaft haben wir gut hinbekommen; was wir heute brauchen, ist das Zeitalter der souveränen Marktwirtschaft. Geld, das wir heute investieren, sollte entweder in den Aufbau von Resilienz und Wettbewerbsfähigkeit fließen, oder in Nachhaltigkeit. Wenn wir aber weiterhin so wenig strategisch denkend vorgehen und uns komplett der Elektrifizierung verschreiben, und das mit Batterien und Solartechnik aus China, machen wir uns selbst zur Kolonie. Wir erleben gerade, was in der Automobilbranche passiert. Beim Wasserstoff können wir das noch abwenden. Aber dafür braucht es Mut.
H₂News: Sowohl volkswirtschaftlich als auch betriebswirtschaftlich.
Chatzimarkakis: Genau. Nehmen Sie die Resilienzstrategie von Rheinmetall: Das Unternehmen investiert nicht primär aus Klimaschutzgründen in Wasserstoff, sondern weil es unabhängiger von Energieimporten werden will. Am Ende des Tages ist zweitrangig, warum jemand in nachhaltigen Wasserstoff investiert, solange er eine langfristige und substanzielle Nachfrage schafft.
H₂News: Hätten Sie abschließend noch eine Botschaft für unsere Leser?
Chatzimarkakis: Lassen Sie es mich auf Englisch formulieren. Wir kommen aus einer Phase, in der galt: „with passion and patience“. Wasserstoff brauchte Leidenschaft, aber auch Geduld. Jetzt kommen wir in die „From Hype to Pipe“-Phase – also vom Hype hin zur konkreten Umsetzung von Projekten. Und die sehen wir überall, trotz der regulatorischen Hürden aus Brüssel. Ich ärgere mich manchmal über die negative Berichterstattung. Wasserstoff-Bashing generiert vielleicht Klicks, aber es hat nichts mit der Realität zu tun.
H₂News: Herr Chatzimarkakis, vielen Dank für das Interview!
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