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„Der größte Fehler ist die Unterlassung“ Interview mit Prof. Dr. Dr. h.c. Hans Ulrich Buhl

Prof. Buhl ist einer der führenden Wirtschaftsinformatiker Deutschlands. Er ist federführend im vom BMBF mit über 100 Mio. Euro geförderten Kopernikus-Großprojekt SynErgie beteiligt, dem 2023 eine Förderverlängerung für weitere drei Jahre zugesichert wurde. Das Ziel dieses Projektes mit bundesweit 80 Partnern ist, Industrieprozesse an eine fluktuierende Stromversorgung anzupassen. Das Zauberwort hierbei lautet Energieflexibilisierung – und ein Schlüssel dafür ist neben energieflexibler Elektrifizierung auch durch energieflexible Elektrolyse erzeugter grüner Wasserstoff.

von | 08.08.24

Prof. Dr. Dr. h.c. Hans Ulrich Buhl, Professor für BWL, Wirtschaftsinformatik, Finanz- & Informationsmanagement, Leiter des Strangs Flexibilitätsvermarktung im Kopernikus-Projekt SynErgie
© Timo Grüneke, FIM Forschungsinstitut
Prof. Dr. Dr. h.c. Hans Ulrich Buhl

H₂News: Herr Prof. Buhl welches Grundproblem adressiert SynErgie?

Prof. Dr. Dr. h.c. Hans Ulrich Buhl: Durch den Ausbau der erneuerbaren Energien und den sukzessiven Wegfall von Grundlastkraftwerken wird das Stromsystem immer volatiler. Angebotsseitig konnten Kohlekraftwerke bislang eine stabile Grundlast fahren und insbesondere Gaskraftwerke sich an die volatile Nachfrage anpassen. Jetzt kommen wir in die umgekehrte Situation: Das Stromangebot wird immer volatiler, während die Nachfrage davon völlig unabhängig schwankt. Deshalb wird es immer schwieriger, Angebot und Nachfrage jederzeit auszugleichen.

H₂News: Wie kann man dem begegnen?

Prof. Buhl: Dafür braucht es ein ganzes Maßnahmenbündel. Natürlich kann man den erneuerbaren Strom neben Pumpspeicherkraftwerken auch in Batterien speichern, um die Nachfrage zu decken, wenn gerade keine Sonne scheint und wenig Wind weht – allerdings lassen sich gar nicht so viele Speicher bauen, wie dazu notwendig wären. Dieses Problem ist seit vielen Jahren bekannt, und war auch ein Grund, warum das Bundesforschungsministerium im Jahr 2015 400 Millionen Euro ausgeschrieben hat, für welche die vier Kopernikus-Projekte ENSURE, P2X, SynErgie und Ariadne die Förderzusage gewonnen haben.

Kopernikus SynErgie

Übersicht über das Kopernikus-Projekt SynErgie (© FIM Forschungsinstitut)

H₂News: Wie sind diese gegliedert?

Prof. Buhl: Das erste Projekt, ENSURE, strebt eine Optimierung der Stromnetze an. Die Netze können das Problem teilweise lösen, dafür müssen sie aber intelligenter digitalisiert sein. Durch gutes Netz-Management lassen sich lokale Überschüsse schnell erkennen und andernorts Unterdeckungen teilweise ausgleichen. Aber natürlich lösen die Netze nicht das globale Problem: Wenn deutlich mehr erneuerbare Energie eingespeist wird, als Nachfrage da ist, kann kein Netz der Welt diese Mengen sinnvoll bewältigen. Das gleiche gilt im umgekehrten Fall, wenn die Nachfrage nicht gedeckt werden kann.

H₂News: Im zweiten Projekt, P2X, geht es darum, wie am besten mit solchen Stromüberschüssen umzugehen ist.

Prof. Buhl: Genau. Wenn es viel mehr erneuerbare Einspeisung gibt als Nachfrage, kann man zum Beispiel prüfen, wo Industriebetriebe ihre nicht permanent laufenden Prozesse hochfahren können, um mehr Nachfrage zu erzeugen. Das ist aber nur in einem beschränkten Umfang möglich. Aus diesem Grund gibt es das Projekt “P2X”, das untersucht, was mit dem Überschussstrom passiert, wenn es keine andere sinnvolle Verwendung dafür gibt. Hier werden dann Konzepte wie Power-to-Chem, Power-to Heat, e-Fuel-Produktion “P2F” und natürlich die energieflexible Wasserstoffelektrolyse relevant.

H₂News: P2X beleuchtet also primär technische Fragen. Worum geht es in SynErgie?

Prof. Buhl: Wir untersuchen, wie Industriebetriebe ihre Produktionsprozesse an das Stromangebot anpassen können. Dabei betrachten wir beide Richtungen: Unternehmen können entweder ihre flexible Produktion steigern, wenn viel erneuerbarer Strom im Netz ist, oder ihre Last reduzieren, wenn das Gegenteil der Fall ist. Der Strompreis sinkt ja, wenn sich viel erneuerbarer Überschuss-Strom im Netz befindet. Wirtschaftlich macht es dann Sinn, mehr Strom für eine höhere Produktion einzusetzen. Wenn hingegen wenig erneuerbare Einspeisung da ist, kommt der Großteil des Netzstroms aus fossilen Quellen und ist damit entsprechend teuer. Das ökonomische Kalkül ist also, viel Strom zu verbrauchen, wenn er günstig ist, und wenig, wenn er teuer ist. Das führt ganz automatisch auch zum ökologischen Ziel, den CO2-Fußabdruck des Stromverbrauchs zu reduzieren.

SynErgie Projektstruktur

Die Projektstruktur des Kopernikus-Projekts SynErgie (© FIM Forschungsinstitut)

H₂News: Also geht es darum, die Produktionsprozesse an das Energieangebot oder die -verfügbarkeit anzupassen, statt konstant zu produzieren, wie wir es aus fossilen Zeiten kennen?

Prof. Buhl: Richtig. Allerdings haben gerade energieintensive Unternehmer in den letzten 100 Jahren gelernt, konstant am optimalen Betriebspunkt zu produzieren. Wie wir in SynErgie sehen, ist es deshalb alles andere als einfach, diese Gewohnheit zu ändern. In manchen Prozessen ist es auch schlicht nicht möglich, weil die Maschinen sich nicht ohne Weiteres anhalten lassen – etwa in den Kernprozessen der Glas- oder Papierherstellung. Aber es gibt viele Vor- und Nebenprozesse, die flexibilisiert werden können. Darum geht es bei SynErgie. Wir haben in fast allen Branchen bereits Beispielprojekte durchgeführt, um zu zeigen, dass sich viele dieser Prozesse mit einem gewissen technischen Aufwand flexibilisieren lassen.

H₂News: Können Sie ein Beispiel nennen?

Prof. Buhl: Gerne sogar drei: Nehmen Sie erstens die Aluminiumelektrolyse. Weltweit sind die Anlagen konstant in Betrieb, aber bei dem TRIMET Werk in Essen haben wir eine Elektrolyse-Strecke so flexibilisiert, dass sie ihre Leistung um 25 MW Leistung steigern oder reduzieren kann. Ein zweites Beispiel ist eine energieflexible Luftzerlegungsanlage von Linde, wo das Gleiche gilt. Und ein drittes ist die thermomechanische Zellstoffproduktion aus Hackschnitzeln und deren Zwischenspeicherung in der Papierindustrie, bei der man 35 MW Leistung variieren kann, ohne die konstant laufende Papiermaschine zu beeinflussen. Solche Projekte zeigen, dass flexible Betriebsweisen möglich sind.

H₂News: Wieso sind sie noch nicht verbreiteter?

Prof. Buhl: In Deutschland werden durch überkommene Regulierung aus der Ära der fossilen Grundlastkraftwerke Unternehmen auch heute noch angereizt, konstant zu produzieren. Auch hier eines von vielen Beispielen: Wenn sie konstant Strom verbrauchen, erhalten sie Netzentgeltreduktionen in Höhe von 80 bis 90 Prozent. Das passt natürlich überhaupt nicht in eine volatile, erneuerbare Energiewelt. Früher machte diese Regelung Sinn, um Grundlastkraftwerke auch am Wochenende und nachts auslasten zu können. Damals suchte man gezielt nach Verbrauchern, die genau dann produzieren, wenn die anderen noch im Bett oder im Wochenende sind.

H₂News: Diese Regelung konterkariert ja die Energiewende. Gibt es seitens der Verantwortlichen den Versuch, sie zu ändern?

Prof. Buhl: Leider nicht rasch und konsequent genug. Wir adressieren das Thema seit sieben Jahren, haben aber noch keine substanziellen Änderungen erlebt. Nur während der Corona-Pandemie oder in der durch den Krieg in der Ukraine ausgelösten Gasmangellage wurden die Regelungen kurzzeitig angepasst, aber typisch deutsch meist zu spät, zu wenig und zu kompliziert. Allerdings hat die Bundesnetzagentur gerade eine Konsultation zur Aktualisierung der Regeln gestartet, um zum 1.1.2026 eine bessere Lösung einführen zu können. Das unterstützen wir gerne und arbeiten mit unseren Partnern intensiv daran, den Prozess so zu unterstützen, dass etwas Sinnvolleres herauskommt.

H₂News: Sie erwähnten Wasserstoff im Zusammenhang mit dem Kopernikus-Projekt P2X. Welche Rolle spielt Wasserstoff für SynErgie?

Prof. Buhl: Eine große. Vor drei Jahren beschäftigten sich unsere Mitarbeiter Robert Förster und Matthias Kaiser intensiv mit Wasserstoff. Wir erkannten damals, dass Wasserstoffelektrolyse, insbesondere die PEM-Elektrolyse, ein regelrechtes Flexibilitätsgeschenk ist. Normalerweise gibt es neben Komplexitätsproblemen erhebliche Zielkonflikte zwischen Flexibilisierung und Effizienz: Wenn Sie den optimalen Betriebspunkt in der Produktion aufgeben, verlieren Sie naturgemäß an Effizienz. Vor allem, wenn Sie Ihre Anlagen komplett hoch- oder runterfahren. Aber PEM-Elektrolyseure können zwischen 20 und 100 Prozent Auslastung mit geringen Effizienzverlusten sehr flexibel gefahren werden. Und das ist für die grüne Wasserstoffproduktion auch notwendig, da diese ja nur dann grün ist, wenn sie mit Strom aus volatilen erneuerbaren Energien betrieben wird. Wir beschäftigen uns seit acht Jahren intensiv mit dem Thema Flexibilitätsvermarktung, daher lag es nahe, sich in den letzten Jahren auch der energieflexiblen Wasserstoffelektrolyse zu widmen.

H₂News: Wie hängen Flexibilitätsvermarktung und Wasserstoff zusammen?

Prof. Buhl: Mit unserem ursprünglichen Ansatz von SynErgie können Unternehmer ihre Produktionsflexibilität auf dem Strommarkt anbieten, quasi Flexibilität vermarkten. Mit dem so verdienten Geld können sie Investitionen finanzieren, die notwendig sind, um die Unternehmen flexibler zu machen. Gleichzeitig können sie damit die Nachteile ausgleichen, die man in der Produktionsplanung hat, weil man viel produziert, wenn der Strompreis niedrig ist und wenig, wenn er hoch ist. Uns fiel dann auf, dass wir unser Flexibilitätsvermarktungs-Know-how eins zu eins auf die Wasserstoffelektrolyse übertragen können, indem wir beispielsweise eine Durchschnittsauslastung von 60 % anstreben. Diese können Sie nicht nur durch einen konstanten Elektrolyseurbetrieb mit 60 Prozent Leistung erreichen, sondern auch durch den flexiblen Betrieb zwischen 20 und 100 Prozent je nach der Verfügbarkeit der erneuerbaren Energie. So erzeugen Sie im Durchschnitt die benötigte Menge Wasserstoff, können aber 40 % Flexibilität in beide Richtungen nutzen und auch am Regelenergiemarkt zum kurzfristigen Ausgleich von Angebot und Nachfrage vermarkten. So sind Sie in der Lage, Wasserstoff auch hierzulande zu wettbewerbsfähigen Kosten zu produzieren.

H₂News: Wie schneidet Wasserstoff hinsichtlich Wirtschaftlichkeit und Effizienz im Vergleich zu anderen Flexibilitätsoptionen wie energieflexible Elektrifizierung ab?

Prof. Buhl: Es geht nicht darum, welche Flexibilitätsoption wir nutzen und welche nicht, sondern darum, welche Option wir in welcher Reihenfolge nutzen. Als erstes sollte man immer prüfen, was alles elektrifiziert werden kann. Beispielsweise beim energieflexiblen Laden von Batterien für die inner- und außerbetriebliche Logistik gibt es quasi keine Effizienzverluste, wenn nur genügend Ladezeit und Ladeleistung zur Verfügung steht. Ist das nicht der Fall oder wenn Sie Produktionsprozesse haben, die auf molekulare Energieträger angewiesen sind, ist Wasserstoff oft die einzige Alternative zu Gas. Natürlich haben wir dann höhere Effizienzverluste als bei direkter Elektrifizierung, aber in diesen Fällen ist dies der einzige Weg zur klimaneutralen Produktion. Elektrifizierung und Wasserstoff sind übrigens kein entweder/oder, sondern ein sowohl als auch: In SynErgie beschäftigen wir uns intensiv mit Bivalenz zwischen Strom- und Gaseinsatz heute und Strom- und Wasserstoffeinsatz morgen. Dann nehmen Sie für Ihre Produktion zu jedem Zeitpunkt den jeweils kostengünstigsten Energieträger. Aufgrund der steigenden Volatilität mit immer häufiger sehr niedrigen oder gar negativen Strompreisen setzen Sie dann künftig immer mehr Strom ein.

H₂News: Allerdings ist in Deutschland das Ziel ja nicht irgendein Wasserstoff, sondern 100%ig grüner Wasserstoff.

Prof. Buhl: Das ist korrekt. Und grünen Wasserstoff können Sie nur volatil erzeugen, weil der erneuerbare Strominput volatil ist. Um die regulatorischen Anforderungen an grünen Wasserstoff zu erfüllen, muss man also zwangsläufig mit der Wasserstoffelektrolyse energieflexibel produzieren.

H₂News: In welchen Branchen sehen Sie denn realistische Einsatzmöglichkeiten für Wasserstoff, um diese Flexibilität zu gewährleisten?

Prof. Buhl: Viele, auch kleine und mittelständische Betriebe nutzen heute schon Wasserstoff als Prozessgas in ihrer Produktion. Für die energieintensive Industrie, die sehr große Mengen von Strom, Molekülen oder von beidem benötigt, ist der Einsatz von Wasserstoff ohne Förderung heute noch zu teuer. Derzeit ist es meist günstiger, Erdgas zu nutzen – vor allem aufgrund der noch niedrigen CO2-Preise. Unternehmen, die Wasserstoff als Prozessgas benötigen, beziehen es derzeit meist in Flaschen und Bündeln von Industriegas­produzenten und zahlen dafür je nach Qualität und Ort meist zwischen 50 und 100 Euro pro Kilogramm. Wenn Sie nun eine von uns optimierte energieflexible Elektrolyseanlage betreiben und damit Kosten von beispielsweise 10 Euro pro Kilogramm erzielen können, haben Sie je nach Belieferung mit Trailern, Flaschen oder Bündeln trotz der Logistikkosten viele Möglichkeiten, diese kostengünstiger mit Wasserstoff zu versorgen – und gleichzeitig bei der Dekarbonisierung zu helfen.

H₂News: Wie ist Ihre Meinung zum Einsatz von Wasserstoff in der Mobilität?

Prof. Buhl: Auch dazu arbeiten wir in einer Reihe von Projekten. Hier gilt der gleiche Grundsatz wie vorhin: Immer Elektrifizierung, wo direkte Elektrifizierung möglich ist. Wasserstoff-PKW werden deshalb eine Nische bleiben. Das gleiche gilt für kleinere und, bei fortschreitender Entwicklung der Batterietechnik, auch mittlere LKW mit Standzeiten und hinreichender Ladeinfrastruktur. Das Aufladen mit Sonne aus der eigenen PV-Anlage am Tag und Windstrom aus dem Netz über Nacht ist hier optimal, da der Strom nachts oft günstiger ist als morgens und abends. Wenn die Kapazität des Stromnetzes eine Ladeinfrastruktur erlaubt, muss man bei hoher Auslastung der Fahrzeuge ausrechnen, ob es wirtschaftlicher ist, den Effizienznachteil des Wasserstoffes in Kauf zu nehmen oder für genügend Zeit zum Aufladen eine größere Anzahl von Flurförderzeugen oder batterieelektrischen LKWs zu nutzen, damit immer Fahrzeuge betriebsbereit sind, während andere laden. Im Langstrecken-Schwerlastverkehr macht Wasserstoff noch viel mehr Sinn, denn hier müssen die Fahrzeuge sehr schnell auftanken können. Überlegen Sie mal, welche Ladekapazitäten im Megawatt-Bereich und Netzkapazitäten im Gigawattbereich Sie überall dort benötigen, wo solche LKW heute stehen, um Schwerlast-LKWs aufzuladen. Wir sind ja seit vielen Jahren nicht einmal in der Lage, für diese ausreichend Parkplätze für die vorgeschriebenen Pausenzeiten bereitzustellen. Deshalb wurde in der EU mit der Alternative Fuels Infrastructure Regulation (AFIR) zurecht der europaweite Aufbau von Wasserstofftankstellen entlang der transeuropäischen Transportnetze (TEN-T) beschlossen, welche auch Deutschland verpflichtet. Wir sollten dies hierzulande rasch umsetzen, auch wenn einige technisch weniger versierte VolkswirtInnen mit beschränkter Praxiskompetenz im Sachverständigenrat das anders sehen.

H₂News: Aber bevor Wasserstoff wirklich eine Flexibilitätsoption werden kann, benötigen wir eine pipelinegebundene Infrastruktur, oder?

Prof. Buhl: So lange zu warten, empfehlen wir definitiv nicht, sondern setzen auf dezentrale, lokale Lösungen. Der Wasserstoffmarkt ist weltweit in Bewegung, aber niemand weiß, welche Preise sich wann einspielen werden. Und damit ist auch die Nachfrage hochgradig unklar. Es kann also sein, dass in den 2030er Jahren ein interessanter weltweiter Wasserstoffmarkt entsteht, weil die Derivate günstiger herzustellen und zu transportieren sind. Aber bis dahin sollten wir in Deutschland an dezentralen Knotenpunkten grünen Wasserstoff nach den RED II/III-Kriterien produzieren, und zwar zu den Preisen von rund 10 Euro pro Kilogramm, die bei optimaler Gestaltung hierzulande möglich sind. Wasserstoffnetze brauchen wir dann zunächst gar nicht unbedingt: Wenn ein Elektrolyseur direkt neben einer Tankstelle steht, ist kein Transport nötig. Dafür brauchen wir nur einen geeigneten Standort mit Netzanschluss, Zugang zu Erneuerbaren und möglichst unmittelbare Nachfrage. Das sollte meiner Meinung nach für die nächsten fünf bis zehn Jahre die Methode der Wahl sein.

H₂News: Gibt es Projekte, die Sie in diesem Sinne für vorbildhaft halten?

Prof. Buhl: Die gibt es. Idealerweise haben sie nicht nur Abnehmer für den Wasserstoff, sondern auch für die Abwärme und den Sauerstoff. Elektrolyseure sollten daher bestenfalls in der Nähe von Industriebetrieben liegen und Zugang zu Wärmenetzen haben. So errichtet beispielsweise Messer, ein Anbieter von Industrie-, Medizin- und Spezialgasen zusammen mit dem Kreis Düren einen so konzipierten 10-MW-Elektrolyseur von Neuman & Esser. In Bayern haben gerade 11 Projekte eine Förderzusage von jeweils 5 Mio. € erhalten, die meisten werden 5-MW-Elektrolyseure errichten. Weitere 23 Förderzusagen in gleicher Höhe befinden sich derzeit im Prozess, hier wird der Elektrolyseuraufbau also mit 170 Mio. Euro unterstützt, Tankstellenförderungen mit über 30 Mio. Euro kommen hinzu. Wir sind beispielsweise an einem solchen Projekt am Flughafen Memmingen beteiligt. Dort ist eine Wasserstofftankstelle bereits in der Realisierung und ein großer Elektrolyseur befindet sich in der Beantragung.  Da der Flughafen an einem Autobahnkreuz liegt, ist er als Tankstellenstandort interessant. Neben dem Flughafen entsteht ein riesiger PV-Park und liegt ein Industriegebiet, die Abwärme des Elektrolyseurs wird im Nahwärmenetz genutzt. Und am wichtigsten: Für den dort produzierten Wasserstoff gibt es viele Interessenten aus den unterschiedlichsten Branchen insbesondere im Raum Memmingen, aber auch weit darüber hinaus. Denn bedauerlicherweise unterstützen ja weder der Bund noch alle Bundesländer Wasserstoff so wie Bayern mit derzeit über 200 Mio. Euro.

Messer Errichtet Grüne Wasserstoffanlage

Die Messer Group errichtet eine grüne Wasserstoffanlage in Düren (© Messer)

H₂News: Sie hatten erwähnt, dass die PEM-Elektrolyse am leichtesten hoch- und runtergefahren werden kann, um Flexibilitätsspitzen abzufangen. Ist PEM also das Mittel der Wahl für solche dezentralen Insel-Lösungen?

Prof. Buhl: Die meisten Projekte, die wir betrachten, nutzen in der Tat PEM. Aber wir haben auch Netzwerkpartner, die kürzlich in Pfeffenhausen einen alkalischen Elektrolyseur gebaut haben. Es ist also eine ongoing discussion, welche Technologie in welchem Anwendungsfall die beste Wahl ist. Wenn ein alkalischer Elektrolyseur eher konstant ausgelastet werden kann, ist er in der Regel effizienter. Aber wenn es bei dieser Betriebsstrategie zu Volatilitäten kommt, etwa weil der Wind anders weht oder eine Wolke über das PV-Feld zieht, sackt die zur Verfügung stehende Leistung abrupt ab. Bei solchen Lastgängen kann die PEM-Elektrolyse flexibler geschaltet werden. Stand heute wird daher in sehr großen Anwendungen mit wenig volatiler Stromversorgung international stark alkalische Elektrolyse genutzt, während die PEM-Elektrolyse eher in den kleineren Leistungsgrößen hierzulande dezentral zum Einsatz kommt.

H₂News: Unterscheiden sich die Elektrolysetypen auch hinsichtlich ihres Outputs an Abwärme?

Prof. Buhl: Ja, die Abwärme ist beim alkalischen Elektrolyseur reichhaltiger, qualitativ, aber auch quantitativ. Für größere Projekte sollte man daher prüfen, ob man mit der alkalischen Elektrolyse die Grundlast mit höherer Abwärmetemperatur abdeckt und mit der PEM-Elektrolyse den volatilen erneuerbaren Strombezug. Dann verbindet man die Vorteile beider Technologien in dieser Hinsicht und auch in einigen weiteren, bspw. die Wasserstoffqualitäten betreffend. Dies macht insbesondere dann Sinn, wenn man die Möglichkeit hat, in einem integrierten Konzept die Abwärme des Elektrolyseurs in einem Nahwärmenetz an Quartierspartner zu vermarkten. Dann erschließt man hier einen weiteren Erlöskanal, der solche Geschäftsmodelle zusätzlich aufwerten kann. Es kommt immer darauf an, welche Technologie und welche Dimensionierung tatsächlich gewählt wird. Die hierfür erforderlichen Optimierungsmodelle sind immer hochkomplex, weil jeder Parameter optimiert wird, von der Strombeschaffung bis zur Synchronisation der Wasserstoffproduktion mit der Absatzmenge und Batterie- und Wasserstoffspeichern dazwischen. Dafür müssen unglaubliche Datenmengen generiert und in der Optimierung berücksichtigt werden. Genau in diesem Bereich unterstützt uns das BMBF seit Anfang des Jahres im Rahmen des SynErgie-Projektes und hat uns geholfen, Alleinstellungsmerkmale für die energieflexible Wasserstoffelektrolyse aufzubauen..

H₂News: Wagen wir abschließend eine Prognose – wird Deutschland sein in der nationalen Wasserstoff-Strategie gestecktes Ziel von 10 GW Produktionskapazität bis 2030 erreichen?

Prof. Buhl: In Anbetracht der überschaubaren Anzahl bislang getroffener Investitionsentscheidungen bin ich da skeptisch. Entscheidend werden die nächsten drei Jahre sein: Wenn wir jetzt nicht extrem beschleunigen, wird es schwierig. Es ist immer gut, eine Strategie anzulegen, um die Rahmenbedingungen und das Zielbild vor Augen zu haben. Aber gleichzeitig braucht es dafür die richtigen regulatorischen Rahmenbedingungen und ja, auch dringend hinreichende Subventionen, um die Technologien im vorgesehenen Zeitrahmen marktreif zu machen. Mit anderen Worten, es ist schwierig, auf der einen Seite an strengen Haushaltsvorgaben wie der Schuldenbremse festzuhalten und auf der anderen Seite sehr ambitionierte Ziele zu setzen, die große Investitionen erfordern.

H₂News: Was würden Sie Unternehmen raten, die Wasserstoffprojekte planen?

Prof. Buhl: Jeder, der Wasserstoff braucht, um seine Dekarbonisierungsziele zu erreichen, sollte in diesem Jahr seine Investitionsentscheidung treffen. Die Rahmenbedingungen sind bis Ende 2027 optimal: Bis dahin gibt es die interessante Kombination von sowohl Netzentgeltbefreiungen als auch Erleichterungen bei der Integration bestehender erneuerbarer Anlagen. Man sollte daher keinesfalls in Passivität verfallen und vor lauter Angst, einen Fehler zu machen, vorsichtshalber gar nichts machen. Denn wer gar nichts macht, begeht den größten Fehler, den er machen kann, nämlich die Unterlassung. Unternehmen dürfen aber keine Unterlasser sein. Sie sollten honorieren, dass es trotz aller Bürokratiediskussionen durchaus Licht am Ende des Tunnels gibt, wenn man etwa an das Wasserstoffbeschleunigungsgesetz denkt. Die Rahmenbedingungen haben sich stark verbessert und müssen nun einfach insbesondere bis Ende 2027 genutzt werden. Wie nah wir dann an das Ziel herankommen, ist im Grunde egal. Aber je näher wir herankommen, desto besser ist es natürlich. Wer bis Ende 2027 im Betrieb und am Markt ist, kann einige Jahre gut Geld verdienen und die jetzt getätigten Investitionen innerhalb von 8 – 10 Jahren amortisieren. Und dann kann man gelassen schauen, was die mittleren und späteren 2030er-Jahre bringen.

H₂News: Herr Prof. Buhl, vielen Dank für das Interview!

Mehr Informationen zum SynErgie-Projekt

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