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„Wir wollen ein H2-Netz von den Niederlanden über Deutschland bis nach Dänemark schaffen“

Gasunie ist eines der größten Gastransportunternehmen Europas. In den letzten Jahren hat der niederländische Netzbetreiber nicht nur große Netzabschnitte auf Wasserstoff umgestellt, sondern auch eine schwere Versorgungskrise bewältigt. Über beides konnten wir mit Dr. Michael Kleemiß sprechen. Lesen Sie hier, wie der Manager für Großprojekte bei Gasunie Deutschland den Stopp der russischen Gaslieferungen im Frühjahr 2022 erlebte, und wie die Lösung der Krise mit dem H2-Hochlauf zusammenhängt.

von | 17.07.24

Dr. Michael Kleemiß ist Manager Großprojekte bei der Gasunie Deutschland Transport Services GmbH
Kleemiß

H₂News: Herr Kleemiß, Wie hat sich Ihre Aufgabe in den letzten Jahren verändert, und welche Aspekte sind aktuell besonders wichtig?

Kleemiß: Es gibt aktuell zwei wesentliche Aspekte für uns: Zum einen die neuen Maßnahmen, die für eine zuverlässige Gasversorgung getroffen werden mussten. Zum anderen der Umbau von einer Erdgas- zu einer Wasserstoffinfrastruktur.

H₂News: Beginnen wir mit den Maßnahmen zu einer stabilen Gasversorgung: Wie beurteilen Sie rückblickend die Lage und das Vorgehen im Krisenjahr 2022?

Kleemiß: Der russische Überfall auf die Ukraine hat uns sehr überrascht. Er hat dazu geführt, dass Erdgaslieferungen aus dem Osten nicht mehr zur Verfügung standen und nun durch Gas aus dem Nordwesten ersetzt werden müssen. Das fehlende Gas kam bis zu diesem Zeitpunkt teilweise zu über 50 % per Pipeline aus Russland nach Deutschland. In diesen Mengen konnte es natürlich nicht auf die Schnelle eins zu eins durch Pipelinegas aus Norwegen, Dänemark und den Niederlanden ersetzt werden. Infolgedessen kam nur noch der LNG-Import als alternative Gasversorgung in Frage. Aber darauf war Deutschland wiederum nicht ad hoc vorbereitet. Die notwendige Terminal-Infrastruktur war zwar zum Teil schon viele Jahre in der Diskussion, aber es gab keine konkreten Planungen.

H₂News: Was war also zu tun?

Kleemiß: Man musste kurzfristig Alternativen in Form von FSRU (Floating Storage and Regasification Units) bereitstellen, und die Bundesregierung hat auch tatsächlich sehr schnell die Initiative ergriffen, um diese zu chartern.

H₂News: Wie lief die Kommunikation zwischen Gasversorgung und Bundesregierung?

Kleemiß: Wir sind gleich Anfang 2022 mit dem Bundeswirtschaftsminister ins Gespräch gekommen. Er hatte uns um Rat gefragt, was konkret geschehen müsste, um die FSRU möglichst schnell anzuschließen. Daraufhin haben wir gemeinsam relativ schnell Lösungsalternativen entwickelt, also auch die anderen Unternehmen wie z. B. die OGE in Wilhelmshaven. Gasunie konnte für die FSRU zwei prominente Standorte in Brunsbüttel und Stade anschlusstechnisch ermöglichen. Außerdem hatten wir zuvor in Eemshaven bewiesen, wie schnell sich eine Übergangslösung realisieren lässt. Dort konnten wir innerhalb von nur sechs Monaten eine FSRU anschließen, um LNG anzulanden.

H₂News: Was haben Sie dem Wirtschaftsminister konkret geraten?

Kleemiß: Unser Rat war: Wir müssen dringend Pipelines bauen, um die Terminals überhaupt anschließen zu können. Dafür war es notwendig, die Genehmigungs- und Beschaffungsverfahren zu beschleunigen, und das hat wiederum dazu geführt, dass das LNG-Beschleunigungsgesetz verabschiedet wurde.

H₂News: Wie ging es weiter?

Kleemiß: Durch die neuen Pläne mussten wir sehr schnell sehr viele Pipelines bauen. Zuerst wurde das Terminal Brunsbüttel an eine provisorische Leitung angeschlossen, die mit einem Regionalnetz verbunden und im Frühjahr 2023 in Betrieb genommen wurde. Damit konnte sehr zügig ein erster Teil der FSRU-Kapazität in das Erdgasnetz eingespeist werden. Parallel begannen wir mit dem Bau der Leitung in Stade, die Anfang dieses Jahres fertiggestellt wurde. Die zugehörige FSRU ist bereits in Stade angelandet und wird bald ihre Arbeit aufnehmen. Zusätzlich haben wir eine Leitung auf dem gegenüberliegenden Ufer der Elbe gebaut, um die komplette Kapazität der FSRU in Brunsbüttel verfügbar zu machen. Diese ging ebenfalls Anfang des Jahres in Betrieb.

Kleemiß

Die Bauarbeiten in 2023 waren unter anderem durch erhebliche Wetterbeeinflussungen geprägt (© Gasunie/Kleemiß)

H₂News: Ist diese neue Infrastruktur eine Übergangslösung?

Kleemiß: Nicht nur, denn diese Pipelines wurden von Beginn an für größere Kapazitäten konzipiert und dimensioniert, um an die zukünftigen, landbasierten Terminals angeschlossen zu werden. Diese Terminals in Brunsbüttel und Stade sollen spätestens 2027 an den Start gehen.

H₂News: Sind die neuen Pipelines wasserstofftauglich?

Kleemiß: Ja, denn ab 2045 darf ja kein Erdgas mehr transportiert werden.

H₂News: Und wie sieht es mit den Terminals aus?

Kleemiß: Bei den Terminals ist es abhängig davon, in welcher Form der Wasserstoff zukünftig angelandet wird. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass er für weite Strecken aufgrund der Volumina in Form von Ammoniak geliefert wird. In diesem Fall würden sich neue Anforderungen an das Fundament und die Korrosivität des Stahls im Terminal stellen. Aber das letzte Wort ist hier noch nicht gesprochen. Wir müssen erstmal abwarten, als welches Derivat der Wasserstoff wirklich anlandet.

H₂News: Kommen wir zum zweiten wesentlichen Aspekt, der oben erwähnten Umstrukturierung von Erdgas auf Wasserstoff: Seit wann gibt es eine Wasserstoffplanung bei der Gasunie?

Kleemiß: Bei uns ist eine Wasserstoffstrategie bereits seit 2014 fest verankert. Gasunie hat – auch in den Niederlanden – frühzeitig damit begonnen, die bestehenden Infrastrukturen so umzugestalten, dass auch für Wasserstoff geeignet sind. 2018 wurde eine erste Leitung in den Niederlanden von Erdgas auf Wasserstoff umgestellt, die seitdem in Betrieb ist. Und letztes Jahr haben wir damit begonnen, einzelne Segmente des deutschen Erdgastransportnetzes auf Wasserstoff vorzubereiten: Dabei werden die Komponenten, die nicht wasserstofftauglich sind, ausgetauscht. Somit ist das entsprechende Transportsegment H2-ready und kann bei Bedarf jederzeit auf Wasserstofftransport umgestellt werden.

H₂News: Setzen Sie die Umstellung bereits flächendeckend um oder warten sie noch auf politische Entscheidungen, z. B. auf europäischer Ebene?

Kleemiß: Was die Bedeutung des Wasserstoff-Kernnetzes betrifft, so sind in den letzten Monaten schon viele Entscheidungen gefallen. Aber es müssen weitere folgen, um die Entwicklung voran zu bringen, den Bedarf der Kunden sicherzustellen und das Netz darauf auszulegen.

H₂News: Wie könnte das Modell aussehen?

Kleemiß: Für Deutschland ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass viele kleinere Elektrolyseure onshore aufgestellt werden, die möglichst viel Wasserstoff erzeugen und ins deutsche Netz einspeisen. Diese Struktur muss sich anschließend in den gesamteuropäischen Kontext einfügen. Ferner wird die Option diskutiert, für den Markthochlauf übergangsweise blauen Wasserstoff einzusetzen, um den steigenden Bedarf bei noch nicht vorhandener Elektrolysekapazität decken zu können. Die Gasunie hat dabei durch die vielen Grenzpunkte zwischen Deutschland und den Niederlanden übergreifende Kapazitäten und vielfältige Möglichkeiten. Auch mit den dänischen Kollegen sind wir bereits im Gespräch, denn Dänemark plant eine sehr umfangreiche Wasserstoffproduktion. Wir möchten ein gemeinsames Verbundnetz schaffen, das von den Niederlanden über Deutschland bis nach Dänemark reicht.

H₂News: Gibt es für diese Planung eine zeitliche Prognose?

Kleemiß: Meine Einschätzung ist, dass der Hochlauf ab 2027-28 langsam beginnt und dann Anfang der 2030er Jahren richtig startet. Das hängt natürlich davon ab, ob und wann Kunden ihre Produktionsprozesse umstellen. Bei Industrien wie der Kunstdüngerproduktion oder der Stahlherstellung wird das deutlich leichter sein.

H₂News: Wo ist es weniger leicht?

Kleemiß: Im Energiesektor wird es schwieriger, denn die Kraftwerke müssen ja neu gebaut werden und das dauert natürlich eine gewisse Zeit. Aber wenn dafür der Bedarf da ist und sie stehen, nimmt alles so richtig an Fahrt auf.

H₂News: In der Vergangenheit mussten Sie große Netzgebiete von L- auf H-Gas umstellen. Ist dieser Prozess mit der Umstellung auf H2 vergleichbar?

Kleemiß: Ja, auf alle Fälle. Auf die Erfahrungen bezüglich der Logistik kann man bauen, aber technisch gesehen hat Wasserstoff natürlich andere Herausforderungen.

H₂News: Gibt es in Ihren Augen weitere wichtige Maßnahmen, die im Zusammenhang mit der Entwicklung einer zukünftigen Infrastruktur getroffen werden sollten?

Kleemiß: Eine echte Herausforderung sehe ich noch in der Verfügbarkeit der Dienstleister, Bauunternehmer, Generalplaner und Ingenieure. Aber das gilt für die gesamte Energiebranche. Momentan bauen wir nicht nur die Gasinfrastruktur um und konstruieren ein neues Wasserstoffnetz, auch die Elektrifizierung läuft auf Hochtouren. Und alle streiten sich um die gleichen Dienstleister. Das ist ein allgemeines gesellschafts-ökonomisches Problem, aber für diese Entwicklung müssen unbedingt Lösungen gesucht und gefunden werden.

H₂News: Herr Dr. Kleemiß, vielen Dank für das Gespräch!

Zur Website von Gasunie Deutschland

 

(Die ungekürzte Vollversion des Interviews finden Sie in der gwf Gas + Energie 6/2024)

Bildquelle, falls nicht im Bild oben angegeben:

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