H₂News: Herr Glaser, was umfasst Ihr H₂-Portfolio konkret?
Philipp Glaser: Wir begleiten unsere Kunden von der ersten Idee bis zum Betrieb. Zunächst bieten wir Simulationsmodelle, die sich schon aus wenigen Rahmendaten zusammensetzen können. Damit lässt sich eine erste digitale Wasserstoffanlage erstellen und bewerten: Kann ich an einem bestimmten Standort überhaupt profitabel Wasserstoff produzieren? Welchen Abnahmepreis bräuchte ich? Wieviel Wasser und Strom benötige ich? Hierzu bieten wir alle notwendige Hardware- und Software-Komponenten. Wichtig ist uns zu betonen, dass die Siemens AG keine Elektrolyseure herstellt und anbietet.
H₂News: Also Fragen, die lange vor der eigentlichen Investitionsentscheidung gestellt werden.
Glaser: Genau. Ergänzend arbeiten wir mit unserer hausinternen Unternehmensberatung Siemens Advanta zusammen, die unsere Kunden bei der Entwicklung profitabler Geschäftsmodelle unterstützt – derzeit eine der größten Herausforderungen im grünen H2-Bereich. Diese Beratung bieten wir sowohl großen Öl- und Gasunternehmen an als auch Start-ups, die noch nie eine Chemieanlage betrieben haben. Diese Breite an unterschiedlichen Kundentypen ist sehr besonders für den grünen Wasserstoffmarkt.
H₂News: Unterscheidet sich der Wasserstoffmarkt stark von anderen Bereichen, in denen Sie aktiv sind?
Glaser: Definitiv, vor allem durch diese Heterogenität. Neben den etablierten Chemie-, Öl- und Gasunternehmen, mit denen ich seit über 20 Jahren zusammenarbeite, haben wir es mit vielen Start-ups oder Firmen aus ganz anderen Branchen zu tun. Diese verfügen teilweise noch nicht einmal über Verfahrenstechniker, wollen oder müssen aber verfahrenstechnische Anlagen bauen. Der Markt ist zudem insgesamt noch nicht ausgereift, unübersichtlich, und volatil. Ständig kommen neue Unternehmen hinzu, und gleichzeitig gibt es keine klaren Top-Player.
H₂News: Zurück zu Ihrem Portfolio. In einem Vortrag auf der Hannover Messe bezeichneten Sie Wasserstoffanlagen als den „idealtypischen Fall einer vollständig digitalisierten Anlage”. Warum?
Glaser: Das hat mehrere Gründe. Erstens: Wir haben es nur mit Greenfield-Anlagen zu tun. Alle Wasserstoffanlagen müssen durch einen Engineering-Prozess gehen, und wenn ich diesen mit den richtigen Tools gestalte, entsteht quasi automatisch ein digitaler Zwilling. Das nennen wir Integrated Engineering. Zweitens: Wir bewegen uns in einem sehr innovativen Umfeld. Für die meisten Elektrolyseure gibt es keine jahrzehntelange Betriebserfahrung. Dennoch sollen sie in Anlagen eingesetzt werden, die auf über 30 Jahre ausgelegt sind. Um sie optimal zu betreiben, brauchen unsere Kunden Daten und Algorithmen. Und ein optimaler Betrieb ist hier besonders wichtig: Studien zeigen bereits, dass Elektrolyseure, die außerhalb ihres optimalen Betriebsbereichs arbeiten, eine deutlich höhere Degradation aufweisen. In solchen Fällen muss zum Beispiel abgewogen werden, ob die Nutzung kostenloser grüner Energie zu Spitzenzeiten den erhöhten Verschleiß rechtfertigt.

Schema Digitale Anlage (© Siemens AG)
H₂News: Interessant: Demnach kann es zuweilen besser sein, den Elektrolyseur nicht hochzufahren, um die Degradation gering zu halten.
Glaser: Korrekt. Zum dritten Grund: Wasserstoffanlagen sind zwar individuell, bestehen aber immer aus ähnlichen Komponenten. Elektrolyseure skalieren nicht so wie klassische verfahrenstechnische Reaktoren aus der Chemieindustrie – statt größerer Einheiten zu bauen, erhöht man in einer Elektrolyseanlage die Anzahl der Module. Mit einem digitalen Zwilling ist diese Skalierung wesentlich einfacher zu bewältigen. Und viertens: Die meisten Investoren planen nicht nur eine einzelne Anlage, sondern wollen ein standardisiertes Konzept, das vervielfältigt werden kann – mit Remote-Betrieb, Datenoptimierung und Fleet-Management. Genau hier können wir mit unserer Idee der digitalen Wasserstoffanlage dazu beitragen, dass die Wasserstoffindustrie schneller wächst und skaliert.
H₂News: Sehr spannend. Und wie ist die „digitale Wasserstoffanlage” konkret aufgebaut?
Glaser: Sie besteht aus drei Hauptkomponenten. Zunächst ist da der digitale Zwilling der Anlage – eine vollständige digitale Repräsentation aller Anlagenteile. Zweitens haben wir den sogenannten Hydrogen Technology Stack. Dabei handelt es sich um vorgefertigte Engineering-Bausteine für Wasserstoffanlagen in unseren Tools. Kunden bekommen von uns eine generische 50%-Lösung, die sie an ihre individuellen Bedürfnisse anpassen können, ohne bei null anfangen zu müssen. Die dritte Komponente ist die Hydrogen Performance Suite. Sie fungiert als User Interface und bringt alle relevanten Daten zusammen: Informationen aus der Automatisierung, aus Simulationen, externe Daten wie Wettervorhersagen und Strompreise. Mit der Suite können wir die Anlage weiter optimieren – zum Beispiel durch automatische Anpassung der Fahrweise an Energiepreise und Produktionszielen.
H₂News: Demnach haben Sie mit Siemens sozusagen ein doppeltes Interesse am Wasserstoffmarkt: Zum einen verkaufen Sie Digitalisierungs- und Simulationslösungen, und zum anderen ihr klassisches Anlagenportfolio.
Glaser: So könnte man es sagen. Wir verkaufen natürlich auch die gesamte Automatisierungs- und Netzwerktechnik. Darüber hinaus spielen Themen wie Stromversorgung, die Integration von Wetterdaten und Grid-Konnektivität eine zentrale Rolle. Bei der Grid-Konnektivität geht es zum Beispiel darum, sicherzustellen, dass die Anlage keine Maßnahmen ergreift, die die Netzstabilität gefährden könnten. Außerdem bieten wir Lösungen zur Cybersecurity, Instrumentierung und Analysetechnik, Stichwort: Soft Sensing.
H₂News: Was ist das?
Glaser: In einer großen Wasserstoffanlage werden aufgrund der angesprochenen Besonderheit bei der Skalierung schnell 40, 50 oder mehr Elektrolyseure parallel betrieben. Dabei ist es wirtschaftlich nicht sinnvoll, jeden einzelnen mit einer vollständigen Messtechnik auszustatten. Stattdessen können wir nur ein oder zwei Elektrolyseure voll instrumentieren und anhand dieser lernen, wie sich die Werte zueinander verhalten. Mithilfe des Soft Sensing – kalkulierter Sensorik – lassen sich viele dieser Werte dann für die übrigen Einheiten erzeugen.
H₂News: Sie sagten es bereits: Solide Business Cases sind im Wasserstoffbereich noch rar gesät. Was sind Ihrer Erfahrung nach, die wichtigsten Faktoren für die Wirtschaftlichkeit?
Glaser:Das hängt stark vom Anwendungsfall ab. Grob kann man hier zwei Haupt-Szenarien unterscheiden: Einerseits die Umwandlung von Überkapazitäten an grünem Strom in Wasserstoff, andererseits die Dekarbonisierung bestehender Prozesse. Was die Wirtschaftlichkeit angeht, so würde ich sagen, dass in beiden Fällen ein intelligentes Management der Anlagen, eine angemessene Fahrweise und zuverlässige Prognosen über die Auslastung am wichtigsten sind. Zusammen mit Capgemini haben wir ein Whitepaper veröffentlicht, das zeigt, dass unser Angebot im Rahmen der Digitalen Wasserstoffanlage die Levelized Cost of Hydrogen um bis zu 12% reduzieren kann. Dieses Einsparpotenzial macht das ein oder andere Geschäftsmodell erst rentabel.
H₂News: Haben Sie ein Best Practice-Beispiel?
Glaser: Sehr interessant finde ich TURN2X, ein deutsches Start-up mit einer laufenden Anlage in Spanien. Sie nehmen CO₂ als Abfallprodukt aus einer nahegelegenen Biogasanlage, methanisieren den Wasserstoff und leiten ihn als „erneuerbares Erdgas” ins spanische Erdgasnetz ein. TURN2X hat viele weitere Anlagen in ganz Europa geplant. Ihr Hauptkunde mit einem langfristigen Abnahmevertrag ist ein Glashersteller aus Niedersachsen. Rentable Wasserstoffprojekte sind also heute schon möglich, wenn man die richtige Technologie einsetzt und seinen Case klug modelliert.
H₂News: Mitte Februar meldete Siemens eine Kooperation mit dem chinesischen Unternehmen Guofu Hydrogen, die vergleichsweise hohe Wellen schlug. Können Sie dazu etwas sagen?
Glaser: Dieses Thema hat in einigen Medien zu falschen Interpretationen geführt. Wichtig ist: Wir entwickeln bei der Siemens AG keine Elektrolyseure und sind auch nicht in die inhaltliche Entwicklung der Guofu-Technologie involviert. Guofu nutzt unser Konzept der digitalen Wasserstoffanlage und unsere generischen Simulationsmodelle – die wir aber in gleicher Weise auch anderen Marktakteuren zur Verfügung stellen. Es geht uns darum, ein Ökosystem zu schaffen, in dem alle Komponenten optimal zusammenspielen.
H₂News: Eine kürzlich erschienene Studie der US-Beratungsfirma ABI-Research unterstreicht das: Darin wurde Siemens als führender Softwareanbieter im Wasserstoffbereich identifiziert. Was macht Ihr Angebot so besonders?
Glaser: Eben unser ganzheitlicher Ansatz. Er spiegelt sich wohl am stärksten in der digitalen Wasserstoffanlage mit den drei beschriebenen Komponenten wider. Wir können Simulations- und Automatisierungsdaten auf eine Weise besonders gut und spezifisch für die Wasserstoffbranche miteinander kombinieren. Nehmen wir die Degradation der Membran in einem Elektrolyseur – ein Wert, den man nicht direkt messen kann. Durch den Vergleich von Simulationswerten mit Ist-Werten aus der Automatisierung können wir solche Parameter jedoch berechnen und einen dynamischen Instandhaltungsplan entwickeln. Das ist besonders wertvoll für Anlagen, die nicht ständig besetzt sind.
H₂News: Sie erwähnten, dass Siemens der gesamten Wasserstoffbranche zum Durchstarten verhelfen will. Wie ist Ihre zeitliche Einschätzung für den Markthochlauf – sind wir in ein bis zwei Jahren so weit, oder wird es bis 2030 dauern?
Glaser: Eine exakte Prognose ist schwer. Mein Bauchgefühl sagt mir, dass wir Ende 2027 oder Anfang 2028 eine stärkere Dynamisierung erleben werden. Das werden wichtige Jahre sein, in denen das Wachstum massiv anziehen dürfte.
H₂News: Sie sehen also eine positive Entwicklung der Branche?
Glaser: Ich habe keinen Zweifel daran, dass der Markt wachsen wird. Es gibt zu viele überzeugende Argumente für grünen Wasserstoff. Die Motivationen, in diesen Bereich zu investieren, sind vielfältig und stark – von der Dekarbonisierung über Versorgungssicherheit bis hin zu ganz neuen Geschäftsmodellen für etablierte Unternehmen. Natürlich gibt es weiterhin Hemmnisse, insbesondere beim Zusammenbringen von Anbietern und Abnehmern. Aber es passiert auch viel: Die Grundlagen für einen erfolgreichen Markthochlauf werden gerade gelegt.
H₂News: Herr Glaser, vielen Dank für das Gespräch!
Wasserstoff bei Siemens