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„Stillstand ist keine Option“

Air Products ist einer der größten Industriegasproduzenten weltweit. Das in über 50 Ländern aktive Unternehmen produziert seit 1940 Sauerstoff. Wasserstoff gehört seit etwa 1960 zum Portfolio; damals produzierte das US-Unternehmen Wasserstoff für die Weltraumraketen der NASA. Heute setzt Air Products auf grünen Wasserstoff. Im Interview erklärt Ivo Bols, Präsident Europa und Afrika bei Air Products, wie der Großkonzern dabei vorgeht und welche Rolle das Giga-Projekt Neom für seine Dekarbonisierungsstrategie spielt.

von | 06.09.24

Ivo Bols ist seit 1999 bei Air Products tätig. 2014 wurde er Präsident für das Europa- und Afrika-Geschäft
© Air Products
Bols

H₂News: Herr Bols, an welchen Stellen der Wasserstoff-Wertschöpfungskette ist Air Products aktiv?

Ivo Bols: Wasserstoff ist einer unserer wichtigsten Kompetenzbereiche. Von der Produktion über den Transport und die Speicherung bis hin zu den Anwendungen sind wir Experten für die gesamte Lieferkette. Der Mobilitätssektor ist ein wichtiger Bereich und steht im Einklang mit dem Ziel, unsere gesamte Vertriebsflotte auf wasserstoffbetriebene Fahrzeuge umzustellen. Seit den 1990er-Jahren betreiben wir Wasserstofftankstellen (HRS) mit unserem patentierten System. Heute verfügen wir weltweit über rund 250 Air Products HRSs.

H₂News: Schon heute produzieren Sie Wasserstoff in großen Mengen. Können Sie uns hierzu ein paar Eckdaten nennen?

Bols: Wir sind der weltweit größte Anbieter von Wasserstoff. Das bedeutet, dass wir Unternehmen mit jenen Mengen an Wasserstoff versorgen, die sie nicht selbst produzieren können. Raffinerien sind eine wichtige Kundengruppe. Air Products verfügt derzeit weltweit über mehr als 100 Wasserstoffproduktionsanlagen mit einer Produktionskapazität von mehr als 9.000 TPD. Außerdem betreiben wir über 2.900 Kilometer Industriegas-Pipelines.

H₂News: Der größte Teil davon wird aus fossilem Erdgas gewonnen, es handelt sich also um grauen Wasserstoff.

Bols: Das ist richtig, da kommen wir her. Und dank unserer sechs Jahrzehnte langen Erfahrung mit grauem Wasserstoff können wir bei unserem Übergang zu grünem Wasserstoff auf ein immenses internes Know-how aufbauen. Air Products hat den Bedarf wichtiger Industrieregionen wie Europa erkannt, sich zur Produktion und Bereitstellung von grünem Wasserstoff verpflichtet, und die notwendigen Entscheidungen und Investitionen getroffen. Wir sind auf dem besten Weg, dies zu erreichen. Es wurden bereits endgültige Investitionsentscheidungen für mehrere Energiewendeprojekte in Höhe von insgesamt 15 Milliarden US-Dollar getroffen. Damit werden wir unser Wasserstoffportfolio auf etwa 30 bis 40 Prozent erhöhen können.

H₂News: Wie weit sind diese Projekte?

Bols: Mehrere Projekte zur Produktion von blauem Wasserstoff stehen kurz vor der Inbetriebnahme, zum Beispiel in den USA und Kanada. Wir verwenden dabei unsere eigene Technologie namens Net Zero. Damit können wir über 95 Prozent des bei der Produktion entstehenden CO2 abfangen und speichern. Wir konzentrieren uns jedoch in erster Linie auf die Produktion von grünem Wasserstoff, da dies für viele Regionen wirtschaftlich am sinnvollsten ist. Das gilt für Teile der USA ebenso wie für Saudi-Arabien, wo wir Projekte wie den Neom Green Hydrogen Complex am Golf von Akaba vorantreiben.

H₂News: Neom gilt als eines der wichtigsten H2-Projekte überhaupt. Wie kam es dazu?

Bols: Neom ist das erste Projekt in dieser Größenordnung. Wir sind hier zusammen mit unseren Partnern Pioniere. Es geht um die Produktion von 600 Tonnen grünem Wasserstoff pro Tag. Außerdem ist es ein voll integriertes Projekt: Gemeinsam mit Thyssenkrupp Nucera bauen wir alkalische Elektrolyseure mit einer Gesamtkapazität von zwei Gigawatt. Darüber hinaus errichten wir Anlagen für die kontinuierliche Erzeugung erneuerbarer Energie aus Wind- und Sonnenkraft und für den weltweiten Export von Wasserstoff.

Bols

© Air Products

H₂News: Wann hat das Projekt angefangen?

Bols: Unsere Ingenieure haben es vor etwa acht Jahren entwickelt. Wir haben dann nach einem geeigneten Standort gesucht, der sowohl Platz für die grüne Energieerzeugung als auch für eine Hafeninfrastruktur bietet. Wichtig war auch, die entsprechenden Genehmigungen zu erhalten und geeignete Partnerunternehmen zu finden. Es brauchte also eine gewisse Vorlaufzeit, aber das ist verständlich. Weltweit gab es noch nichts, das vergleichbar wäre oder woran man sich orientieren könnte. Nur Air Products ist an ähnlichen Projekten beteiligt, zum Beispiel in Texas oder New York, dort allerdings mit Wasserkraft.

H₂News: Und welche Erfahrungen haben Sie bisher in der Umsetzung gemacht?

Bols: Wie wir alle wissen, waren die letzten Jahre etwas turbulent für die Realisierung solcher Projekte. Sowohl die weltweite Inflation als auch die Energiekrise haben sich massiv auf die Lieferketten ausgewirkt. Dennoch ist es unser Ziel, die Anlage 2026 in Betrieb zu nehmen. Von der Grundidee bis zur Fertigstellung vergehen also rund zehn Jahre. Nicht schlecht für ein Projekt dieser Größenordnung. Die eigentliche Bauzeit wird übrigens nur etwa drei Jahre betragen.

H₂News: Und gibt es schon Abnehmer für den Wasserstoff aus Neom?

Bols: Die gibt es! Wir unterscheiden dabei zwei Gruppen: Zum einen kleinere Kunden, insbesondere Akteure im Mobilitätssektor wie Betreiber von Linienbussen. Neben den H2-Molekülen liefern wir auch unsere eigene Tankstellentechnologie. Darüber hinaus konzentrieren wir uns auf den Einsatz von Wasserstoff im Schwerlastverkehr, und auch der Betrieb von H2-Güter- oder Nahverkehrszügen ist interessant.

Wichtig für einen frühzeitigen und schnellen Aufbau sind jedoch große Industriekunden. Kürzlich haben wir einen großen Vertrag mit dem Energieunternehmen TotalEnergies unterzeichnet, das für die Dekarbonisierung seiner Raffinerien in Nordeuropa rund 200 Tonnen grünen Wasserstoff pro Tag abnehmen wird. Solche Verträge bringen die Dinge ins Rollen.

Bols

© Air Products

H₂News: An Großabnehmern dürfte es Ihnen mittelfristig nicht mangeln. Die deutschen Stahlhersteller benötigen ja gewaltige Mengen Wasserstoff.

Bols: Genau. Wir machen hier wichtige Schritte in die richtige Richtung. Allerdings hängt die Anfangsphase des Wasserstoffhochlaufs derzeit vor allem vom Gesetzgeber und seiner Regulierung ab. Hier gibt es sicherlich noch viel mit den Behörden zu verhandeln, damit die Regulierung den Markthochlauf stärker unterstützt. Neben der Beschleunigung der Genehmigungsverfahren sind Förderungen für Industrie und Verkehrsträger unerlässlich, um einen klimafreundlichen Umstieg auf Wasserstoff zu ermöglichen.

H₂News: Auf dem Wasserstoffmarkt gibt es eine Vielzahl konkurrierender Technologien und Verfahren. Wie legt sich ein Konzern wie Air Products bei der Planung eines Großprojekts auf ein bestimmtes fest?

Bols: Das wichtigste Kriterium für uns ist die Zuverlässigkeit einer Technologie, nicht wie neu sie ist. Man kann immer vermeiden, eine endgültige Entscheidung zu treffen, weil man denkt, dass bald eine bessere Technologie auf den Markt kommen könnte. Das ist definitiv nicht die Position von Air Products, denn diese Haltung führt zu Stillstand. Und Stillstand ist für uns keine Option.

H₂News: Und wie ermitteln Sie die zuverlässigste Technologie? 

Bols: Erstens haben wir nach 60 Jahren im Wasserstoffgeschäft eine Menge Erfahrungen gesammelt. Wir beliefern eine Vielzahl von Kunden, vom kleinen Unternehmen bis hin zur Großindustrie, und sogar die NASA. Darüber hinaus verfolgen wir die technologischen Entwicklungen genau und vergleichen sie mit unseren Erfahrungen. So sind wir zum Beispiel zu dem Schluss gekommen, dass die alkalische Elektrolyse unter den Bedingungen im Neom-Projekt am zuverlässigsten produziert und dass Ammoniak das effizienteste Speichermedium für dieses Projekt ist. Wenn man auf solche etablierten und bewährten Technologien zurückgreifen kann, lohnt es sich nicht, ein Risiko mit neuen Verfahren einzugehen. Zumindest nicht, wenn man in wenigen Jahren große Mengen an Wasserstoff auf den Markt bringen will.

H₂News: Setzen Sie für die Bereitstellung dieser großen Mengen für europäische Kunden ausschließlich auf den außereuropäischen Markt?

Bols: Wir glauben, dass der Import von erneuerbarer Energie im Allgemeinen die wettbewerbsfähigste Option ist. Gleichzeitig stimmen wir voll und ganz mit den Zielen von RE Power-EU überein, die auf eine Diversifizierung der Wasserstoffquellen abzielen. Die lokale Produktion ist ebenfalls wichtig. Die südeuropäischen Länder haben hier natürlich einen Standortvorteil. Wir glauben fest an eine gemeinsame Anstrengung von Import und heimischer Produktion. Der Bedarf eines Industriestandortes wie Deutschland ist so groß, dass jeder ein Stück vom Kuchen abbekommt und der deutsche Markt jede einzelne Wasserstoffeinheit braucht.

Zwei Dinge gibt es dabei jedoch zu beachten: Erstens wird die zunehmende Elektrifizierung vieler Sektoren und Industrieprozesse einen Großteil des in Europa verfügbaren erneuerbaren Stroms verbrauchen. Zweitens benötigt man sehr viel Wasser, um grünen Wasserstoff elektrolytisch zu gewinnen. Und viele Industrieregionen in Europa stehen unter Wasserstress. Wir glauben daher, dass ein großer Teil des europäischen Wasserstoffbedarfs durch Importe gedeckt werden muss. Air Products hat die Lösung, indem wir erneuerbares Ammoniak importieren und es als Ausgangsstoff für die lokale Produktion von Wasserstoff in unseren geplanten Anlagen für erneuerbare Energien in Europa verwenden.  Die Importstrategie der deutschen Regierung z.B. sieht das ähnlich.

H₂News: Die EU-Kommission hat eine Wasserstoffstrategie für das Jahr 2030 formuliert, die kürzlich vom Rechnungshof als zu ambitioniert kritisiert wurde. Für wie realistisch halten Sie die europäischen Wasserstoffziele?

Bols: In den letzten Jahren hat sich in Bezug auf Wasserstoff viel getan, man denke nur an RED II und RED III, es gibt also definitiv eine Beschleunigungsdynamik. Doch die Realität ist, dass sich der Markt nur dann bewegt, wenn es wirklich notwendig ist. Mit anderen Worten: Die CO2-intensiven Sektoren werden ihre Dekarbonisierung nur dann beschleunigen, wenn es für sie teuer wird, weiterhin CO2 auszustoßen. Dies wird für viele Akteure in der Wirtschaft der Fall sein; schließlich werden einzelne Verbraucher nicht anders reagieren.

H₂News: Einige Unternehmen sind schon ganz aus der Wasserstoffbranche ausgestiegen.

Bols: Ja, aber die, die jetzt noch dabei sind, können es schaffen. Sie haben das nötige Know-how und auch die nötige finanzielle Unterstützung. Oft ist man frustriert, weil die Dinge nicht schnell genug vorangehen. Aber ich glaube, wir haben jetzt einen Zeitraum von vier bis fünf Jahren, in dem die Markteinführung von Wasserstoff realistischerweise gelingen kann. Wird sie in der Größenordnung stattfinden, die wir uns jetzt vorstellen? Vielleicht nicht. Aber der Markt wird sicherlich eine Größe erreichen, die einen wesentlichen Impact hat. Daran habe ich keinen Zweifel.

H₂News: Herr Bols, vielen Dank für das Gespräch!

 

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