H₂News: Herr Le Van, wie wichtig ist Wasserstoff für Air Liquide?
Gilles Le Van: Wasserstoff macht ungefähr 10 Prozent unseres weltweiten Umsatzes aus – wir produzieren ihn seit über 50 Jahren. Schon heute wird er in vielen Bereichen eingesetzt, etwa in Raffinerien zum Entschwefeln von Treibstoffen. Durch immer strengere Normen müssen die Treibstoffe immer sauberer werden, und dabei spielt Wasserstoff eine wichtige Rolle, um höhere Qualitäten zu erzielen.
H₂News: Sie sind also bereits Wasserstoffproduzent, allerdings größtenteils fossilbasiert.
Le Van: Richtig. Unser Ziel ist, den grauen Anteil zunehmend durch erneuerbaren Wasserstoff zu ersetzen. Diese Rolle haben wir uns auch als Unternehmen vorgenommen: Wir wollen durch die Produktion von grünem und CO2-armem Wasserstoff nicht nur unsere eigenen Aktivitäten dekarbonisieren, sondern auch die Prozesse und Produkte unserer Kunden.
H₂News: Wo sind Sie, abgesehen vom Trailblazer-Projekt, im Bereich grüner Wasserstoff noch aktiv?
Le Van: Wir wollen in mehreren europäischen Ländern ähnliche Großprojekte mit Leistungen von weit über 100 Megawatt aufziehen. In der französischen Normandie bauen wir aktuell einen 200-MW-Elektrolyseur, in anderen Ländern arbeiten wir an anderen Projekten, bei denen die finale Investitionsentscheidung (FID) noch aussteht.
H₂News: Und das ist nicht Ihre einzige Aktivität im Wasserstoffsektor: Sie sind auch mit 25 Prozent an einem Joint Venture mit Siemens Energy beteiligt. Herzstück dieser Kooperation ist eine im November 2023 in Berlin eröffnete Fabrik für PEM-Elektrolyse-Stacks, in der jährlich Systeme mit einem Gigawatt Gesamtkapazität produziert werden sollen.
Le Van: Korrekt. Wir haben diese Kooperation ins Leben gerufen, um zwei kompetente Firmen zusammenzubringen. Siemens Energy fungiert als Technologieanbieter und steuert die Gigafactory, wobei Erfahrungen aus Air Liquide-Projekten wie dem Trailblazer zur Weiterentwicklung der Stacks einfließen. Ein erheblicher Teil der Kapazitäten dieser Fabrik unterstützt unsere H2-Projekte. Indem wir damit an der Produktion der Stacks beteiligt sind, die wir bei unseren eigenen Vorhaben nutzen, findet ein optimaler Wissensaustausch statt.
H₂News: Das heißt, auch im Trailblazer sind Stacks aus der Berliner Gigafactory verbaut?
Le Van: Für den Trailblazer kamen die Stacks noch nicht aus der Gigafactory, die Technologie ist aber die gleiche. Für unsere nächsten Projekte werden die Stacks dann automatisiert in der Berliner Fabrik hergestellt. Es handelt sich dabei übrigens um die sogenannten Silyzer 300, die auf Entwicklungen von Siemens Energy basieren.
H₂News: Schauen wir uns genauer an, was im Trailblazer passiert. Welchen Strom nutzen Sie?
Le Van: Der Strom wird über das Netz unseres lokalen Standort-Partners angeliefert. Dabei erfolgt die Beschaffung nach den RED-Kriterien der EU, die festlegen, welche Attribute grüner Strom erfüllen muss. Daran haben wir uns gehalten und entsprechende Verträge mit den Lieferanten abgeschlossen.
H₂News: Wie hängen die Strompreise mit der Wettbewerbsfähigkeit der grünen Wasserstoffproduktion zusammen?
Le Van: Wettbewerbsfähiger Strom ist entscheidend für die Wasserstoffwirtschaft. Etwa zwei Drittel des Wasserstoffpreises werden durch die Stromkosten bestimmt: Sind die Strompreise hoch, steigt auch der Preis für grünen Wasserstoff. Daher muss der Strompreis international wettbewerbsfähiger werden. Andernfalls wird es insgesamt sehr schwierig für die deutsche Industrie.
H₂News: Welches Wasser verwenden Sie für die Elektrolyse, und was passiert mit den produzierten Gasen?
Le Van: Das Wasser wird ebenfalls von unseren lokalen Partnern bereitgestellt und vor der Verwendung aufbereitet und demineralisiert. Nach der Elektrolyse werden Wasserstoff und Sauerstoff in verschiedenen Behältern gesammelt und komprimiert, um sie direkt ins Netz einspeisen zu können.
H₂News: Hat der Trailblazer neben seiner außergewöhnlichen Größe weitere Besonderheiten?
Le Van: Abgesehen von der engen Entwicklungspartnerschaft mit Siemens Energy wäre das die Tatsache, dass wir eine neue Anlage in eine bestehende Infrastruktur integriert haben. Wir betreiben hier zwei bestehende Pipelines – eine für Wasserstoff und eine für Sauerstoff. Außerdem stehen uns größere Tanks für die Speicherung zur Verfügung. Diese Bestandsinfrastruktur ist äußerst wertvoll, weil sie es uns ermöglicht, die Gase direkt an unsere Bestandskunden zu liefern.
H₂News: Sie könnten Ihren Kunden quasi per Knopfdruck grünen statt fossilen Wasserstoff liefern?
Le Van: Genau. Dadurch, und das ist der dritte interessante Punkt, können verschiedene Industriesektoren die Nutzung von grünem Wasserstoff erproben; ob Raffinerien oder die Stahlindustrie. Zum Beispiel besteht eine Anbindung an den Thyssenkrupp Standort, so dass die Voraussetzung für eine Versorgung mit grünem H2 geschaffen wurde. Auch die chemische Industrie ist bereits ein wichtiger Abnehmer, da Wasserstoff dort zum Beispiel zur Produktion von Schaumstoffen zum Einsatz kommt, die in Alltagsprodukten wie Autos oder Matratzen verwendet werden. Wenn wir diesen Sektoren grünen Wasserstoff zur Verfügung stellen, können sie die Nutzung unkompliziert ausprobieren und gegebenenfalls ihre gesamte Produktionskette umstellen.
H₂News: Gibt es auch Herausforderungen, die einer solchen Umstellung im Weg stehen?
Le Van: Eine der größten Hürden ist derzeit der Preis – grüner Wasserstoff ist etwa dreimal teurer als konventioneller. Allerdings ist das eine Momentaufnahme: Bei den richtigen Rahmenbedingungen wird der Preis für grünen Wasserstoff sinken, während die Kosten für grauen Wasserstoff steigen werden. Langfristig erwarten wir eine Annäherung der Preise.
H₂News: Welche Erfahrungen haben Sie bislang mit dem Betrieb gesammelt?
Le Van: Die Anlage läuft sehr zufriedenstellend. Die anfänglichen Kinderkrankheiten konnten wir innerhalb weniger Wochen beheben. Vor allem die Performance der Stacks überzeugt – gerade, wenn man sich vor Augen führt, dass es die erste Anlage dieser Größenordnung ist. Ein wesentlicher Vorteil der PEM-Technologie ist ihre kompakte Bauweise. Im Vergleich zur alkalischen Elektrolyse benötigt sie deutlich weniger Platz. Auch die Flexibilität ist beeindruckend: Der Trailblazer erreicht eine Leistungsänderung von 10 Prozent pro Sekunde. Diese hohe Regelgeschwindigkeit ist ein entscheidender Vorteil gegenüber anderen Technologien, gerade bei den stark fluktuierenden erneuerbaren Energien im Stromnetz.
H₂News: Wie stark ausgelastet ist der Trailblazer aktuell?
Le Van: Die Anlage ist technisch für den kommerziellen Betrieb voll einsatzbereit – wir könnten sofort Volllast fahren. Allerdings ist die Kundenresonanz derzeit noch begrenzt: Neben den höheren Kosten fehlt vor allem die Zertifizierung. Das ist ein gravierendes Hindernis. Denn auch wenn der grüne Wasserstoff etwa dreimal teurer ist als der fossile, gibt es durchaus interessierte Kunden, die den Wasserstoff zur Erfüllung ihrer Quoten brauchen.
H₂News: Sie können Ihren grünen Wasserstoff also nicht verkaufen, da Sie ihn nicht als “grün” zertifizieren lassen können, weil dafür die gesetzlichen Grundlagen fehlen?
Le Van: Genau, und das ist äußerst unbefriedigend. Als Industrieunternehmen haben wir unsere Hausaufgaben gemacht und die technische Herausforderung, den Anlagenbau, in Rekordzeit gemeistert. Doch jetzt fehlen die administrativen Voraussetzungen für den Vollbetrieb. Besonders frustrierend ist das, weil wir bereits Kunden haben, die den höheren Preis für grünen Wasserstoff zahlen würden. Gerade in Branchen wie der Mobilität oder dem Raffinerie-Sektor, wo der Gesetzgeber bestimmte Quoten für erneuerbaren Wasserstoff vorschreibt, ist dieser Nachweis für unsere Kunden essentiell.
H₂News: Gibt es aus Brüssel schon einen Hinweis, wann es mit der Zertifizierung so weit sein könnte?
Le Van: Die EU-Kommission hat nach langem Warten die sogenannten „voluntary schemes“ für die Zertifizierung offiziell anerkannt. Wir haben die Bundesregierung um Unterstützung gebeten, um den Prozess nicht nur in Brüssel zu beschleunigen, sondern auch in Deutschland gut vorzubereiten und möglicherweise parallel zu starten. In Ländern wie Dänemark ist das durchaus möglich. Der gesamte regulatorische Prozess dauert viel zu lang.
H₂News: Ist das Problem hierzulande größer als in anderen EU-Staaten?
Le Van: Etwas. Wir sind überall in Europa, aber auch in Deutschland, oft in einem komplexen Regelwerk gefangen, das so kleinteilig ist, dass jeder auf den anderen wartet. Das führt zu erheblichen Verzögerungen. Unternehmen wie Air Liquide, di
e bereit sind, die Transformation aktiv voranzutreiben, werden dadurch gebremst.
H₂News: Und was tun Sie mit dem Trailblazer, bis es so weit ist?
Le Van: Solange muss die Anlage im Testbetrieb laufen. Ein Testbetrieb war ohnehin Teil unserer Planung, da wir für künftige Projekte möglichst viele Betriebserfahrungen sammeln wollen. Dennoch würden wir natürlich gerne die komplette Prozesskette unter realen Bedingungen erproben.
H₂News: Gibt es auch schon Abnehmer für den bei der H2-Produktion anfallenden Sauerstoff?
Le Van: Ja, er wird vollständig verwertet. Wir speisen ihn in unsere Pipeline ein und ergänzen damit unser bestehendes Sauerstoffangebot. Wir sprechen hier von relativ kleinen Mengen – etwa 1850 m³ pro Stunde. Unsere Luftzerlegungsanlagen arbeiten in deutlich größeren Dimensionen.
H₂News: Neben der Sauerstoff-Pipeline verfügen Sie auch über ein eigenes Netz aus Wasserstoff-Pipelines.
Le Van: Ja, unser H2-Pipeline-Netz erstreckt sich über rund 240 Kilometer. Im Vergleich zu Erdgaspipelines, die mehrere tausend Kilometer umfassen, mag das zunächst überschaubar erscheinen. Aber aktuell ist es das größte Wasserstoff-Netz Deutschlands. Auch die Dimensionen unterscheiden sich deutlich von Erdgasnetzen: Unsere Pipeline hat einen Durchmesser von etwa 200-300 mm, während große Erdgaspipelines Durchmesser von 800 mm und mehr aufweisen. Daher eignet sich unsere Pipeline nicht für den überregionalen Transport, ist aber ideal, um erste Großprojekte zu demonstrieren und bestehende Kunden mit ersten grünen Wasserstoff-Molekülen zu versorgen. Und genau das tun wir hier in Oberhausen.
H₂News: Herr Le Van, vielen Dank für das Gespräch!
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