H₂News: Herr Dr. Liesebach, was macht das OGE-Innovationsteam?
Nils Liesebach: Wir identifizieren unsere Themen selbst. Wir werfen einen externen Blick auf den Wasserstoffmarkt und finden heraus, welche Puzzleteile für einen schnellen Hochlauf fehlen. Dann versuchen wir, diese bereitzustellen.
H₂News: Können Sie dafür ein Beispiel nennen?
Liesebach: Auch vor dem Hintergrund der im Sommer 2020 beschlossenen Nationalen Wasserstoffstrategie haben wir zunächst unsere Kunden gefragt, was sie für eine erfolgreiche Wasserstoff-Wende benötigen. Die Rückmeldung war immer wieder, dass es an Experten fehle und das Geschäft nur zukunftsfähig sei, wenn die Kunden wüssten, wo es mit dem Wasserstoff hingeht. Um diese Fragen zu klären, haben wir mit Horvath und dem Tüv Süd im September 2020 die Beratungsfirma Evety gegründet. Ergänzend haben wir vor kurzem mit der RWTH Aachen das Weiterbildungsprogramm HySchool ins Leben gerufen, um mehr und schneller Wasserstoffexperten auszubilden.
H₂News: So haben Sie beide sich kennengelernt. Wie fügt sich H2 Digital in dieses Bild ein?
Marcus Rübsam: Der Wasserstoffmarkt ist gerade sehr gereizt. Es fehlen Experten, und es ist unklar, wer den Wasserstoff eigentlich herstellen und wer ihn verbrauchen wird. Um trotzdem zu einem Wasserstoffnetz zu kommen, muss man erstmal alle Akteure an einen Tisch bringen und ihnen Unterstützung anbieten. Das steckt hinter H2 Digital. Es ist eine öffentliche Plattform, aber auch ein echtes Geschäft und eine reale Netzplanung für Fernleitungsnetzbetreiber (FNB), Verteilnetzbetreiber (VNB) und Stadtwerke. Das war unser Schnittpunkt mit OGE. Gemeinsam sind wir zu dem Schluss gekommen, dass es eine digitale Plattform braucht, die Produzenten und Abnehmer vernetzt, Bedarfe ermittelt und Produktionszentren ausfindig macht. Noch arbeiten viele Netzbetreiber mit Excel, um Wasserstoffbedarfe abzufragen und zu katalogisieren. Das ist aber unpraktisch und mit vielen Anwendungen nicht kompatibel
H₂News: Wie sah Ihr Lösungsansatz aus?
Rübsam: Transparenz, Vernetzung, Monetarisierung. Das sind unsere drei Schritte. Erstmal muss eine solche Plattform öffentlich sein, damit jeder sieht, wo Wasserstoff hergestellt und wo er benötigt wird. Auf dieser Grundlage können Interessierte eigene Analysen erstellen und schauen, was überhaupt an Wasserstoff vorhanden ist. Wenn jemand ein H2-Projekt betreibt, das dort nicht vorhanden ist, kann er sich einfach anmelden und ein Projekt-Profil anmelden. Er bekommt dann eine Bestätigungsmail inklusive Formular, in das er Projektdetails eintragen kann: Name, Ziel, Design, die Projektphasen der nächsten zehn Jahre und so weiter.
H₂News: H2 Digital ist Anfang November 2023 an den Start gegangen. Wie läuft es?
Rübsam: Aktuell sind bei H2 Digital europaweit schon über 300 Projekte öffentlich abgebildet, fast 3.000 Vorhaben sind insgesamt auf der Plattform registriert, sowohl Verbraucher als auch Produzenten. Nun beginnt die nächste Phase, die Vernetzung. Jeder Beteiligte sieht die anderen Projekt-Profile und kann sich mit den Betreibern in Verbindung setzen.

Die OGE betreibt ein Hochdrucknetz mit 11.874 km Gesamtlänge und 994 Ausspeisepunkten. Laufend kommen neue Leitungsabschnitte
hinzu, so wie hier 2019 ein 77 km langes Verbindungsstück zwischen Forchheim und Finsing in Bayern (© OGE)
H₂News: Wie genau läuft das ab?
Rübsam: Nach Willen der Bundesregierung sollen VNB und FNB das Wasserstoffnetz planen. Dazu führen sie Marktabfragen in ihren Netzgebieten durch. Auch die Stadtwerke müssen das tun, allerdings haben sie in der Regel keine Erfahrung mit Wasserstoff. Wir als H2 Digital bieten ihnen an, über unsere Plattform eine strukturierte Bedarfsabfrage anzulegen. In der Praxis meldet sich also ein Stadtwerk an und schickt Mitarbeiter zu den Industrie- oder Mobilitätsunternehmen vor Ort. Die ermittelten Bedarfe kann es dann bei H2 Digital hinterlegen. Dem Stadtwerk wird also ein eigenes Content Management ermöglicht, es muss keine Excel-Tabellen oder Ähnliches mehr anfertigen. Das Profil läuft dann weiter: Der Nutzer erhält Alerts, wenn sich etwas ändert, und kann seine Daten in Echtzeit abfragen und aktualisieren.
H₂News: Das Stadtwerk verlagert also seine Wasserstoff-Netzplanung auf Ihre Plattform.
Rübsam: Genau. Die eingepflegten Daten können dann auch für einen FNB interessant sein. Er darf im Profil des jeweiligen Stadtwerks nicht die genauen Daten der Kunden einsehen, aber er will ja auch nur wissen, wie hoch der Wasserstoffbedarf in einer spezifischen Region in den nächsten 10 Jahren ausfallen könnte. H2 Digital bietet also einen digitalen Wasserstoffplan in Echtzeit.
H₂News: Sind die aktuell häufigen Bedarfsabfragen durch Netzbetreiber ein Problem?
Rübsam: Es haben sich durchaus schon Betriebe über die Abfragen beklagt. Für viele kommen sie zu oft und sind zu zeitaufwendig. H2 Digital kann hier vieles vereinfachen: Ein Betrieb trägt einmal seine Anlagengröße und seinen Bedarf entweder selbst oder über das zuständige Stadtwerk ein, und wenn dann ein Netzbetreiber eine Abfrage bei ihm starten möchte, kann er sagen: Schau doch bei H2 Digital nach. Der Betrieb kann seine Daten dort entweder ganz oder nur für ausgewählte Abfragen zugänglich machen.
H₂News: Gibt es ein Beispiel?
Rübsam: Es gab einen mittelgroßen Verteilnetzbetreiber, der eine Wasserstoff-Marktabfrage an seine 1.500 Kunden geschickt hat. Geantwortet haben 34. Das muss nicht überall so sein, aber es zeigt, dass viele skeptisch sind. Und zu Recht, denn eine bloße Abfrage liefert ja keinen Mehrwert. Es geht darum, mit Digitalisierung Mehrwert zu schaffen. Und das tun wir mit H2 Digital, indem die Projektierer ihre Daten selbst pflegen können und sehen, was sich um sie herum tut. Wir sind überzeugt, dass das möglichen H2-Produzenten hilft, ihre Investitionsentscheidung zu treffen. Wer 2035 Wasserstoff will, muss heute mit der Planung beginnen.

Bislang sind über 300 H2-Projekte öffentlich auf H2 Digital abgebildet, fast 3.000 Projekte sind insgesamt registriert (Bild: H2 Digital)
H₂News: Kann H2 Digital mehr Projekte zur finalen Investitionsentscheidung bringen?
Liesebach: Die FIDs sind ein Riesenproblem in Europa. Die beiden großen Fragezeichen sind der Zeitplan – wann passiert was – und der Preis – wie viel wird Wasserstoff wo kosten. Beides wird in H2 Digital so aufbereitet, dass Investoren und Stadtwerke sehen, wo optimale Bedingungen hinsichtlich der Angebots- und Nachfragesituation herrschen, wo Pipelines verlaufen und wo Investitionen Sinn machen.
H₂News: Wie war die Resonanz?
Rübsam: Sehr gut. Wir hatten innerhalb kurzer Zeit viele Rückmeldungen, vor allem aus Kommunalverwaltungen und Stadtwerken, die fragten, wie genau sie die Plattform nutzen könnten. Demnächst führen wir Gespräche mit zwei sehr großen Kommunen und ihren Versorgern, bei denen es um die digitale dynamische Marktabfrage in den Regionen geht. Bald sollten ein dritter oder vierter hinzukommen. Zusätzlich haben wir täglich bis zu fünf Anfragen von Projektbetreibern, die ihre Projekte eintragen wollen.
H₂News: Wie beurteilen sie die Qualität der eingetragenen Daten?
Rübsam: Wir überprüfen natürlich immer, ob sie stimmen – und sind oft überrascht, wie korrekt die Angaben sind. Wir können übrigens auch stellvertretend für die Stadtwerke Marktabfragen bei deren Kunden durchführen. Technisch lässt sich ja alles validieren, um inhaltliche Fehler zu vermeiden.
H₂News: Wie verbindlich sind die Daten, die Nutzer bei H2 Digital eingeben?
Liesebach: Sie sind nicht verbindlich. Aber sie erzeugen Transparenz und eine realistische Grundlage, die dabei hilft, den Markt zu definieren, um in der nächsten Stufe tatsächliche Marktbeziehungen aufzubauen. Erst braucht man eine Marktdefinition, dann ein Marktdesign, und dann einen Preis. Den gibt es heute noch gar nicht. Irgendwann wird man auf der Plattform aber auch mit Wasserstoff handeln können.
H₂News: Und Sie wollen auch Europa damit erschließen?
Rübsam: Auf jeden Fall. Das macht mit Blick auf große Leitungssysteme wie den European Hydrogen Backbone (EHB) durchaus Sinn. In Ländern wie Spanien oder Frankreich analysieren Netzbetreiber schon heute, welche Produzenten und Konsumenten am EHB hängen werden und wie viel Wasserstoff darüber nach Deutschland kommen wird. Theoretisch könnte man über H2 Digital auch dort eine Abfrage starten. Seit November 2024 betreiben wir bereits die digitale Plattform des H2med-Konsortiums in Portugal, Spanien, Frankreich und Deutschland.
H₂News: Also ist es für den Erfolg Ihres Vorhabens am besten, wenn möglichst viele Akteure mit H2 Digital arbeiten.
Rübsam: Genau. Letztlich ist es egal, wie die Plattform heißt. Hauptsache, es gibt sie. Wir brauchen diese Digitalisierung im Wasserstoff, Digitalisierung wird die Energiewende insgesamt prägen. Es reicht nicht, Excel-Tabellen hin- und herzuschicken. Ein weiterer Vorteil: Datenbanken lassen sich in andere Datenbanken integrieren. Beispielsweise könnten wir auf einen Schlag sämtliche Standorte von Wasserstofftankstellen einladen. Diese Flexibilität bietet nur eine Digitalisierungsplattform. Und wir sind nicht auf Wasserstoff beschränkt: CO2- oder Biomethan- Quellen, Senken und Transportwege können wir genau so erfassen. Es geht also im Grunde darum, jeden Aspekt der Energiewende digital abzubilden. Das ist unsere Vision.
Liesebach: Auch Aspekte wie der Wasserbedarf der H2-Produktion lassen sich in die Plattform integrieren. Für die Sektorenkopplung spielt so etwas eine große Rolle. Mit den Erneuerbaren kriegen wir ein dezentrales, volatiles Energiesystem, da ist es extrem wichtig, die verschiedenen Molekül- und Energieströme digital abzubilden. Dadurch können wir einerseits Vorhersagen treffen und andererseits den Betrieb optimieren.
H₂News: Was ist der weitere Plan für H2 Digital?
Rübsam: Der Anfang ist gemacht, aus einer Idee ist eine Plattform mit echtem Content geworden. Es läuft also alles nach Plan. Es ist natürlich gut, wenn die Regierung Entscheidungen wie die zum Kernnetz trifft. Das gibt den Netzbetreibern und Stadtwerken Sicherheit, sich um eine übergreifende Planung zu kümmern. Im Laufe des Jahres 2024 haben wir bereits Systeme für fünf europäische FNB aufgebaut, und wir wollen noch mehr große Partner auf die Plattform holen. Generell gilt: Je mehr Content auf der Plattform ist, desto besser. Mit den Inhalten entsteht der Wert.
H₂News: Ist es realistisch, dass die Daten auf H2 Digital von einem Netzbetreiber wie OGE als Grundlage für die Pipelineplanung genutzt werden?
Liesebach: Mittel- bis langfristig ja. Wir haben sehr große Investitionszyklen. Für die ersten Jahre ermöglicht H2 Digital ein Matching von benachbarten H2-Quellen und Senken. Langfristig könnte es natürlich sein, dass wir Nutzern anbieten, den Wasserstoff direkt über unser Netz zu beziehen. Unsere Leitungen sind aber für große Produzenten und Abnehmer gedacht, nicht jede Produktions-Insel auf der Karte von H2 Digital wird an unser Netz gehen. Erst wenn ein Anwender deutlich mehr H2 benötigt, als lokal verfügbar ist, kommt OGE ins Spiel. Deshalb wollen wir verstehen, was wo passiert; wo Senken entstehen, die wir bedienen müssen. Das Kernnetz bildet die Grundlage, mit der wir erst die großen Betriebe abholen können und dann die vielen kleinen, die auch umstellen wollen. Letztlich wird aber der Preis pro Kilogramm essenziell sein.
H₂News: Inwiefern stellt Wasserstoff andere Anforderungen an die Transportnetze als Erdgas?
Liesebach: Der Großteil unserer Leitungen ist H2-ready. Ein paar Komponenten müssen ausgetauscht und beobachtet werden, aber insgesamt sind wir sehr gut aufgestellt. Es ist natürlich so, dass Wasserstoff stärker diffundiert, dass er Stahlleitungen verspröden kann und dass er ein anderes Brennverhalten an den Tag legt. Daher ist die Sicherheit ein zentraler Punkt. Die Herausforderung ist für uns aber nicht neu: Methan transportieren wir seit Jahrzehnten.
H₂News: Beim Erdgas läuft der Transport immer in eine Richtung.
Liesebach: Richtig,und gerade die diversifizierten Bezugsquellen machen Wasserstoff so spannend. Heute strömt das Gas aus einem Bohrloch oder über einen großen LNG-Tanker, bald aber vielleicht im Sommer aus dem Süden, im Winter aus dem Norden und so weiter. Da können wir digital realistische Vorhersagen treffen.
H₂News: Wie sieht es allgemein aus mit der Digitalisierung in der Gasbranche?
Liesebach: OGE hat ein starkes Digitalisierungsteam, das sich regelmäßig mit anderen FNB zu Themen wie Sicherheit und Transporteffizienz austauscht. Wir prüfen zudem, welche Systeme wir in den Wasserstoffmarkt überführen können und welche nicht. Es wird noch viel Digitalisierung kommen. Seit 2021 intensivieren wir mit dem H2UB im Rahmen der Initiative „Digital Drives Hydrogen“ die Zusammenarbeit mit Digitalunternehmen. Es ist spannend, wie sich der Hochlauf der Digitalwelt auf den der Wasserstoffwirtschaft übertragen lässt. Das Internet ist ja auch nicht von heute auf morgen entstanden, sondern in Wellen. Die Frage ist, wie solche Wellen für den H2-Markt aussehen könnten.
H₂News: Herr Dr. Liesebach, Herr Rübsam, vielen Dank für das Gespräch!
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